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Start-ups in Chemie und Pharma

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Wie Innovation und Mut die Industrie revolutionieren

Von Klaus Bernhard Hofmann und Simone Leuschner

In der heutigen schnelllebigen Welt sind Innovation und Anpassungsfähigkeit entscheidend für den Erfolg jeder Branche. Besonders in der chemischen und pharmazeutischen Industrie, die vor großen globalen Herausforderungen steht, spielen Start-ups eine immer wichtigere Rolle. Auch wenn Deutschland in den letzten 15 Jahren ein erfolgreiches Industrieland gewesen war und es allen aktuellen Schwierigkeiten zum Trotz noch immer ist, so gibt es zu wenig Existenzgründer. Dabei sind sie es, die jede Wirtschaft braucht. Wer gründet, so sieht es Michal Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), der möchte neue Wege gehen und Risiken tragen. Eine Gründung zu managen und daraus etwas zu machen, erfordert ein bestimmtes Profil.

Was können die Fach- und Führungskräfte von den Start-ups lernen? Eine ganze Menge. Start-ups spielen eine wichtige Rolle als Innovationsmotor der deutschen Volkswirtschaft. Haben sie Erfolg, so können sie als „Mittelstand von morgen“ zu wettbewerbsfähigen Unternehmen heranwachsen und langfristig zu Beschäftigung, Wohlstand und Innovation beitragen. Dabei sind die Wege, über die sie Erfolge erreichen, für die Fach- und Führungskräfte des VAA von großem Interesse.  Es geht dabei um die Entfesselung von Innovationen, um Agilität und um Nachhaltigkeit. 

Zwar verfügt oder verfügte die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland über eine hohe Innovationskompetenz. In Kooperation mit Hochschulen und Instituten war sie auf dem Gebiet der Innovation gut vernetzt und breit aufgestellt. Dennoch wird sie angesichts der Herausforderungen durch nachhaltige Transformation ihr Innovationstempo erhöhen müssen. Klimawandel, Rohstoffverbrauch und Umweltverschmutzung gehen weiter rasant voran. Produktion und Produkte müssen innovativer werden.

Viele Start-ups haben Ansätze entwickelt, wie Nachhaltigkeitsziele unter Beibehaltung einer wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden können. Es gibt eindrucksvolle Start-ups, die innovative Technologien zur Nutzung von Abfallströmen und zur Reduzierung von CO2-Emissionen entwickelt haben. Es gibt überzeugend auftretende Start-ups, die Künstliche Intelligenz (KI) und digitale Technologien in ihre Produktion integriert haben und die Effizienz und Flexibilität in der Produktion erheblich steigern konnten. 

Start-ups sind oft Vorreiter in der Anwendung solcher Technologien, was der traditionellen Industrie wertvolle Einblicke und Lösungen bieten kann. Es gibt eindrucksvolle Start-ups, die beispielhaft schnell auf Marktveränderungen reagieren und innovative Lösungen entwickeln konnten. Diese Agilität kann der chemischen Industrie helfen, sich schneller an neue Herausforderungen und Chancen anzupassen. Darüber hinaus setzen erfolgreiche Start-ups oft auf enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen und Partnern. Dies fördert kreative Lösungen und beschleunigt die Entwicklung neuer Technologien.

„Frühzeitig haben wir auch gezielt unser Netzwerk aufgebaut – über chemstars und Partnerschaften mit Industrie und Forschung. Dieses Umfeld hat uns Zugang zu Know-how, Infrastruktur und Sichtbarkeit  verschafft. Obwohl wir unsere Branche sehr gut kennen, lassen wir unsere Ansätze regelmäßig von absoluten Expertinnen und Experten challengen – etwa in der Prozessskalierung, im Engineering oder bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Die Offenheit für externe Perspektiven hilft uns, blinde Flecken zu vermeiden und unsere Lösung kontinuierlich zu verbessern.“ Julian Hertrampf, Marketing und Human Resources beim Start-up eeden.

Es seien an dieser Stelle zwei bemerkenswerte Beispiele für erfolgreiche Kooperationen in der Chemie angeführt: Zum einen zwischen der BASF und LanzaTech. Diese Partnerschaft zielt darauf ab, CO2-Emissionen zu reduzieren, indem industrielle Abgase in wertvolle Chemikalien umgewandelt werden. LanzaTechs biotechnologische Prozesse werden mit dem chemischen Know-how der BASF kombiniert, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Zum anderen die Kooperation zwischen Covestro und der RWTH Aachen: Beide arbeiten zusammen, um innovative Materialien und Technologien zu entwickeln. Diese Kooperation hat bereits zu bedeutenden Fortschritten in der Entwicklung von nachhaltigen Kunststoffen geführt. Solche Kooperationen zeigen, wie traditionelle Unternehmen und innovative Partner zusammenarbeiten können, um nachhaltige und zukunftsweisende Lösungen zu entwickeln.

Jahrbuch: Mit Chemie und Pharma erfolgreich starten! 

Der VAA hat sich für die diesjährige Ausgabe seines Jahrbuchs entschlossen, erfolgreiche junge Unternehmen aus der Reihe der Start-up-Gründerinnen und Gründer zu porträtieren. Es soll exemplarisch verdeutlichen, wie man erfolgreich mit einem Start-up ins Berufsleben starten kann. Die Überlegungen wurden durch Gespräche mit der Gateway Factory angeregt, die mit dem Aufbau einer Start-up-Factory in der Region begonnen hat – als Katalysator für Deep-Tech-Start-ups. Für eine entsprechende Förderung hat sich die Gateway Factory im Rahmen des EXIST-Leuchtturmwettbewerbs beworben. Dieses Vorhaben soll das VAA-Jahrbuch 2025 unterstützen.

Gateway Factory als Treiber 

Die Gateway Factory ist ein Konsortium der renommiertesten Universitäten in Nordrhein-Westfalen, darunter die RWTH Aachen, die Universität zu Köln und die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 140.000 Studierende, 12.000 Forschende, 1.000 Mentorinnen und Mentoren sowie 7.500 Investorinnen und Investoren erreicht die Gateway Factory und bietet ihnen eine einzigartige Plattform zur Förderung und Begleitung von Start-ups im Rheinland. 

Schon in den letzten Jahren kam es zu einer erfolgreichen Unterstützung: Viele der bisher geförderten 1.500 Start-ups arbeiten auf dem Gebiet von Chemie und Pharma. Die Gateway Factory ist also ein umfassender Gründungsservice, der die Vorteile der Wissenschaftsstandorte Köln, Düsseldorf und Aachen nutzt und mit der Start-up- und Investmentszene zusammenbringt. Dem immensen Kreativpotenzial an den Universitäten wird professionelle Unterstützung angeboten, um Gründungspotenziale zu heben. Wirtschaft, Politik und Forschung ziehen dabei an einem Strang und schaffen ein ideales Umfeld für Innovationen. 

Porträts erfolgreicher Start-ups

Bis zu 20 innovative Deep-Tech-Start-ups werden im neuen Jahrbuch vorgestellt, das im Herbst 2025 erscheinen wird. Sie sind auf den Gebieten Future Health, Life Sciences, Sustainable Infrastructure und Mobility tätig. Fast alle Gründerinnen und Gründer haben einen MINT-Hintergrund. Ihr Lebens- und Berufsweg zeigt zum einen, was sie mit ihren Start-ups für sich persönlich erreicht haben. Er zeigt aber auch überdeutlich zum anderen, wie sie zum Fortschritt der Gesellschaft beigetragen haben oder noch beitragen werden.

Die Sichtbarmachung von Start-ups und Scale-ups und der Ausbau von niederschwelligen Kooperationsmöglichkeiten bieten auch dem Verband und seinen Mitgliedern vielfältige Möglichkeiten, um mehr über die in der Region vorhandenen Strukturen für exzellente Forschung und die etablierten Industriestrukturen zu erfahren und sie möglicherweise effizient für Innovationen zu nutzen.

Gründungskultur im Fokus

Die Autorinnen und Autoren im Jahrbuch werden schildern, wie die großen Branchen Chemie und Pharma von jungen Gründerinnen und Gründern gesehen werden. Sie zeigen, was die Branche tun kann, um die Transformation zu meistern. Da schwingt die Frage mit, was sie unternehmen sollen, um attraktiver für junge Menschen zu werden.

Welche Aussagen werden die Gründerinnen und Gründer machen? Kommen dabei auch Antworten zur Frage auf, wie die Erneuerung der chemischen Industrie vonstattengehen kann. Erfolgt sie dieses Mal möglicherweise von „unten“ über kleine Strukturen und junge Unternehmen?

„Aus unserer Sicht ist eine der wichtigsten Erfahrungen, dass das Feedback von Seiten der Industrie unschätzbar wertvoll ist und die Produktentwicklung und Optimierung für eine wirtschaftliche Anwendung stark unterstützt und beschleunigt.“ Dr. Guido Schroer, CEO des Start-ups Power2Polymers.

Letztlich soll über die Zusammenarbeit mit den Start-ups auch der Austausch mit den Branchenpartnern wie dem Verband der Chemischen Industrie, der DECHEMA und der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) weiter ausgebaut werden. Dialog auf dem Gebiet der Innovationen, die zu erfolgreichen Start-ups geführt haben, treibt die Branche voran. Auch eine weitere Überlegung gibt es: Vielleicht passen einige Start-ups zu den Portfolios einiger Unternehmen der chemischen und pharmazeutischen Industrie, in denen der VAA viele Mitglieder hat.

Start-up-Szene wichtig für den VAA

Die Unterstützung der Start-up-Szene durch den VAA kann schließlich auch die Sichtbarkeit in der Chemie- und Pharma-Community erhöhen und eine stärkere Vernetzung mit wichtigen Akteuren aus Wirtschaft, Politik und Forschung bewirken. Besonders jüngere Autorinnen und Autoren, die social-media-affin sind, fungieren als hervorragende Multiplikatoren. Dies wurde im letzten Jahrbuch des VAA deutlich, das eine breite Resonanz in den sozialen Medien fand.

Durch die Unterstützung von Start-ups kann der VAA seine Beziehungen zu Hochschulen und deren Chemie- und Pharmafakultäten weiter ausbauen. Dies führt zu einer erhöhten Zahl von studierenden Ansprechpartnern und gibt der VAA-Hochschularbeit neue Impulse. Ein engerer Kontakt zu den Hochschulen ermöglicht es dem VAA, junge Talente frühzeitig zu identifizieren und zu fördern.

Die Marke „VAA“ kann durch die Platzierung auf verschiedenen Plattformen des „Ökosystems“ der Gateway Factory wie Websites, Newsletter und Berichte, weiter gestärkt werden. Dies erhöht die Sichtbarkeit des VAA und macht ihn zu einem bekannteren Akteur in der Start-up-Szene. Kontakte zu großen Partnernetzwerken aus Wirtschaft, Politik und Forschung werden etabliert. Auch das verbessert die Zusammenarbeit mit wichtigen Branchenorganisationen. Besonders die GDCh und die DECHEMA zeigen großes Interesse an der Start-up-Szene.

Schnittstelle zur Politik

Ein weiterer Vorteil der Unterstützung der Start-up-Kultur ist die Vertiefung des Kontakts zur Landesregierung Nordrhein-Westfalen und zum Forschungsministerium in Berlin. Dies kann dem VAA helfen, politische Unterstützung für seine Projekte zu gewinnen und sich stärker in politische Entscheidungsprozesse einzubringen.

Insgesamt bietet die Unterstützung der Start-up-Szene dem VAA zahlreiche Möglichkeiten, seine Position in der Chemie- und Pharma-Community zu stärken, neue Netzwerke zu knüpfen und seine Sichtbarkeit zu erhöhen. Dies kann langfristig zu einer stärkeren Positionierung des VAA als führende Interessenvertretung in der Branche führen.

Aus den ersten Gesprächen mit der Gateway Factory konnte der VAA viele Informationen mitnehmen. Es wurde über Gebiete gesprochen, für die sich Menschen in der Branche besonders interessieren: Chemie und Biotechnologie, Life Sciences, Medical Devices, Pharma und Arzneimittel, AgriTech und Lebensmittel, Energie, Material und Ressourcen sowie die Circular Economy.

Um die Gründerszene in Deutschland voranzubringen, braucht es einen breit gefassten Kulturwandel. Es braucht Kooperationen, weil sich mit den technologischen Entwicklungen die Wertschöpfungsketten aufknacken lassen und große mit kleinen Unternehmen viel intensiver und systematischer zusammenarbeiten müssen. Und es braucht Kapital und unternehmerischen Mut. 

„Wir wünschen uns vor allem eines: einen offenen, lösungsorientierten Dialog über die Zukunft der Chemieindustrie – mit Nachhaltigkeit als integralem Bestandteil wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit.“ Max Krause, CCO des Start-ups Simplyfined.

Die mediale Unterstützung von Start-ups in der chemisch-pharmazeutischen Industrie ist eine Chance, innovative Lösungen für globale Herausforderungen bekannter zu machen. Sie kann zeigen, wie man in Forschung und Entwicklung schneller werden kann. Sie kann die Kultur der Zusammenarbeit auf vielen Ebenen verbessern. Und Erfahrungen kombinieren und den Personalaustausch intensivieren. Das ist das Ziel des VAA-Jahrbuchs 2025. Veröffentlicht wird die Publikation im Herbst 2025.

Interview mit Stefan Weber

Foto: chemstars

Industrieerfahrung kann klaren Vorsprung bringen

Stefan Weber von chemstars in Nordrhein-Westfalen ist Experte für den Aufbau eines Start-up-Ökosystems als Zusammenspiel verschiedener Akteure, Institutionen und Rahmenbedingungen, die das Entstehen und Wachsen junger Unternehmen fördern. Auf Initiative von Bayer, Braskem, Currenta, Evonik, Henkel, Siemens, dem VCI NRW und der RAG-Stiftung ist chemstars gegründet worden. Erfahrungen sammelte Weber während seiner Tätigkeiten in der Industrie.

VAA Magazin: Warum ist Deutschland ein guter Standort für Start-ups in der Chemiebranche?

Weber: Deutschland zählt zu den weltweit führenden Standorten der Chemieindustrie – und das aus gutem Grund: Hier treffen starke Industriekonzerne auf moderne Chemieparks, technologisches Know-how und ein dichtes Netz aus Universitäten und Forschungseinrichtungen. Für Start-ups entsteht dadurch ein besonders fruchtbares Umfeld. Hinzu kommen zahlreiche Förderprogramme und Finanzierungsmöglichkeiten, die den Weg von der Idee bis zur Unternehmensgründung unterstützen.

Werden Start-ups oft direkt aus der Universität heraus gegründet? Und wie wichtig ist es, erste Erfahrungen in der Industrie zu sammeln?

Ja, viele Start-ups entstehen direkt aus Universitäten oder Forschungseinrichtungen – was kaum überrascht. Denn genau dort entstehen die innovativen Ideen, Technologien und Schutzrechte, die zur Gründungsbasis werden. Auch wenn Industrieerfahrung keine zwingende Voraussetzung ist, kann sie ein echter Vorteil sein. Die chemische Industrie ist komplex, stark reguliert und für Außenstehende oft schwer durchschaubar. Wer Marktmechanismen, Herausforderungen und Strukturen aus erster Hand kennt und ein Netzwerk mitbringt, hat einen klaren Vorsprung. Wir würden uns deshalb wünschen, dass sich mehr Menschen mit Industrieerfahrung auf das Abenteuer Start-up einlassen – entweder als Gründer oder als Mitarbeiter. 

Was ist Ihre Mission bei chemstars? 

Wir bauen ein Ökosystem für chemierelevante Start-ups und möchten einen Beitrag leisten, dass mehr erfolgreiche Chemie-Start-ups entstehen und sie gemeinsam mit etablierten Unternehmen die chemische Industrie der Zukunft entwickeln. Dafür setzen wir an drei Punkten an. Erstens begeistern wir Wissenschaftler für das Thema Gründung. Denn zu viele bahnbrechende Technologien verbleiben bislang in der akademischen Forschung. Zweitens unterstützen wir Startups mit einem branchenspezifischem Supportprogramm. Denn Gründen in der Chemie ist besonders anspruchsvoll. Verglichen mit anderen Branchen ist das definitiv die Champions League. Und drittens schaffen wir regelmäßig Anlässe, um Start-ups und etablierte Unternehmen gezielt zusammenzubringen. 

Welche Möglichkeiten haben Start-ups, sich zu finanzieren?

Die Finanzierungsmöglichkeiten hängen stark von der jeweiligen Phase ab. In der Vorgründungsphase bietet das Förderprogramm EXIST-Forschungstransfer eine hervorragende Unterstützung. Es finanziert ein vierköpfiges Team über 18 Monate – inklusive Personal, Material, Equipment und externer Beratung. Der Haken: Man darf in dieser Zeit noch nicht gegründet haben und muss weiterhin an einer Hochschule oder einem Forschungsinstitut angestellt sein. Nach der Gründung kommen Business Angels, Venture-Capital-Fonds wie der High-Tech-Gründerfonds sowie spezielle FuE-Förderprogramme ins Spiel. Mit fortschreitender Entwicklung werden dann strategische Investoren wichtiger – und für den Bau einer ersten Industrieanlage ist oft auch Venture Debt oder weiteres Fremdkapital notwendig.

Was haben Sie in bislang vier Jahren mit chemstars erreicht? Was sind Ihre Ziele für die Zukunft?

In den vergangenen vier Jahren konnten wir chemstars als Anlaufstelle für Chemie-Start-ups aus ganz Europa etablieren. Rund 50 Start-ups haben wir begleitet – diese wiederum haben über 150 Millionen Euro Kapital eingesammelt. Unsere Vision geht aber darüber hinaus: Perspektivisch soll chemstars zu einer Innovationsplattform werden, die es etablierten Unternehmen leicht macht, die besten Start-ups zu finden und mit ihnen zu kollaborieren. 

Gibt es auch schwierige Phasen in der Gründung? Welchen Tipp haben Sie dafür?

Klar gibt es die. Schwierige Phasen gehören für Gründungsteams einfach dazu. Gerade in der Chemie. Wichtig ist, dass man dann nicht aufgibt, flexibel bleibt und Feedback von außen ernst nimmt. Und manchmal muss man dann auch eine Kurskorrektur vornehmen. Hilfreich ist, wenn man sich früh Mitstreiter beziehungsweise Partner sucht, mit denen man offen über Herausforderungen und Zweifel sprechen kann.

Zahlen und Fakten

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Mehr als 16.000
Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen (NRW) werden für die „NRW Startup Reports“ analysiert. Die jährlichen Studien über das nordrhein-westfälische Start-up-Ökosystem des Ministeriums für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie werten Daten und Statistiken zu zehn globalen Start-up-Ökosystemen auf Basis des deutschen Handelsregisters und anderer Quellen aus. Der Fokus dieser Kennzahlenreports liegt dabei auf den Bereichen Gründungsintensität, geografische und demografische Verteilung, Finanzierung, Beschäftigungseffekte und globale Vernetzung. Ein wachsendes und aktives Start-up-Ökosystem und die Innovationskraft junger Unternehmen sind für jeden Wirtschaftsstandort von entscheidender Bedeutung. Mit über 2.300 Gründungen in den letzten vier Jahren verzeichnet NRW gleichauf mit Bayern und nach Berlin die stärksten Gründungsaktivitäten in Deutschland.

Um rund zwei Milliarden
auf 11,5 Milliarden US-Dollar ist der Gesamtwert des Start-up-Ökosystems NRW im Vergleichszeitraum vom 2. Halbjahr 2021 bis Ende 2023 gestiegen. Dabei machten die Finanzierungsrunde beziehungsweise der „Exit“ der sogenannten Unicorns DeepL und LeanIX einen großen Teil des Wertzuwachses aus.

Eeden – chemisches Recycling von Textilien
Aus Münster kommt das Tech-Start-up Eeden (Eigenschreibweise: eeden), das eine skalierbare Lösung eines der größten Probleme der Textilindustrie ermittelt: das Recycling von Mischtextilien. Aktuell werden weltweit weniger als ein Prozent der Alttextilien wieder zu neuer Bekleidung recycelt. Das will das junge Unternehmen ändern. Es zeigt, wie aus chemischer Forschung ein industriell relevanter Lösungsansatz entstehen kann – mit direktem Impact auf globale Lieferketten. „Mit unserer chemischen Recyclingtechnologie können wir Baumwoll-Polyester-Mischgewebe in ihre molekularen Bestandteile zerlegen und daraus hochwertige Rohstoffe gewinnen“, sagt ein Mitarbeiter des 2019 als Spin-off aus der Hochschule Niederrhein gegründeten Unternehmens. Das Team ist interdisziplinär aufgestellt: Textiltechnologie, Chemie und Wirtschaftsingenieurwesen. Aktuell wird die Demonstrationsanlage in Münster gebaut, während parallel kommerzielle Projekte mit führenden Akteuren der Textilindustrie aufgesetzt werden, um die Technologie in der Praxis zu erproben. „Mit dem Bau unserer Demonstrationsanlage in Münster setzen wir bewusst auf NRW, einen Standort mit hoher Chemiekompetenz und Zugang zu Talenten.“ Die Unternehmer sehen großes Potenzial in einer noch engeren Zusammenarbeit zwischen Industrie, Wirtschaft und jungen Technologieunternehmen. So können neue Lösungsansätze gezielt mit branchenspezifischen Anforderungen abgeglichen und praxisnah weiterentwickelt werden.

MechSyn – Mechanochemie
Unter der Leitung von Prof. Ferdi Schüth am Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr wurde eine Vision zum Unternehmen: MechSyn, von Dr. Özgül Agbaba und Christian Bürger gegründet, hat die Mission, die Mechanochemie – eine lösungsmittelfreie, energieeffiziente Synthesemethode – zu skalieren und ihr Potenzial als Plattformtechnologie mit breiter industrieller Bedeutung zu demonstrieren. Ihr Ansatz ermöglicht eine nachhaltige Herstellung von Hochleistungsmaterialien mit besonderem Schwerpunkt auf Energiespeicherung und Katalyse. Das Ziel sei nicht nur, einen Wandel in der Materialherstellung anzuregen, sondern auch in der Arbeitsweise von Unternehmen – wo Teams Entscheidungen und Gewinne gemeinsam teilen und Werte auf eine Weise schaffen, die gerecht, transparent und zukunftsorientiert ist. „Eine der wichtigsten Lektionen, die wir gelernt haben, ist, unternehmerisch zu denken und unsere Technologie so zu kommunizieren, dass sie bei potenziellen Kunden und Partnern Anklang findet“, sagt Agbaba heute. Dies hat geklappt, denn MechSyn bekam zahlreiche Unterstützung von chemstars, HIGH-TECH.NRW, INAM, MAX!mize und Koala. Besonders dankbar sind die beiden auch für den Rückhalt, den sie von ihrer Heimatuniversität bekommen. Agbaba und Bürger machen deutlich, dass die deutsche Chemieindustrie stark sei, aber um relevant und verantwortungsbewusst zu bleiben, müsse sie sich in Richtug nachhaltiger und kreislauforientierter Praktiken weiterentwickleln: „Wir sind der Meinung, dass junge Innovatoren eine einzigartige Rolle spielen müssen.“

RIZM – Energieplanung und Steuerung
Gegründet wurde das Start-up RIZM 2022. Es unterstützt Unternehmen dabei, Potenziale im eigenen Energiesystem aufzudecken und zu heben. Auf der Plattform können Energiemanager, Einkauf und Executive Manager mit denKI-Agenten „Energy System Design“, „Asset Operation“ und „Portfoliomanagement“ zusammenarbeiten, um sowohl strategisch als auch intra-day optimale Entscheidungen treffen und umsetzen können. Mithilfe der Plattform konnte RIZM einzelnen Firmen schon Einsparungen in dreistelliger Millionenhöhe ermöglichen. Es gehe darum, so das Unternehmen, alle energierelevanten Entscheidungen über die Software treffen zu können. Unternehmen sollten in der Lage sein, ihre Energieverbräuche zu überwachen, Kosten zu senken und die Effizienz ihrer Energiesysteme zu steigern. RIZMs Algorithmen analysieren dabei kontinuierlich die Daten und geben Handlungsempfehlungen. So können Unternehmen nicht nur kosteneffizienter arbeiten, sondern auch ihre Klimaziele besser und schneller erreichen.

Power2Polymers – nachhaltige Polymere und High-Performance-Polymere
Über einen patentierten Prozess stellt Power2Polymers nachhaltige und leistungsstarke Polymermaterialien für Spezialanwendungen wie Industrieklebstoffe, Beschichtungsmaterialien und Schmierstoffe her. Die Materialien sind den Angaben der Gründer zufolge bereits bei Herstellung aus fossilen Rohstoffen nachhaltiger im Vergleich zu konventionellen Polyolen, können in Zukunft aus nachhaltigem Methanol hergestellt werden und weisen zudem Vorteile in der Anwendung auf. Bei Industrieklebstoffen sind dies beispielsweise kürzere Trockenzeiten oder eine bessere Verträglichkeit zur Verklebung und auch des Recyclings unpolarer Materialien. Das Unternehmen möchte einen Beitrag zur Defossilisierung der chemischen Industrie leisten. Darüber können die Souveränität des Chemiestandorts NRW und Deutschland gestärkt und Lieferabhängigkeiten durch die Etablierung der nachhaltigen Wertschöpfungskette reduziert werden. Aber auch global können durch die nachhaltigen POM-Polyole nicht nur CO2-Emissionen reduziert, sondern zeitgleich nachhaltige leistungsstarke Produkte insbesondere im Bereich Polyurethan in den Markt gebracht werden. Die Unternehmer weisen daraufhin, wie wichtig – neben finanzieller Unterstützung und beispielsweise der Bereitstellung von Laborflächen – das Feedback vonseiten der Industrie ist. Das unterstütze und beschleunige die Produktentwicklung und Optimierung für eine wirtschaftliche Anwendung. „Was dabei immens geholfen hat und hilft, ist die Etablierung von Netzwerken und Acceleratorprogrammen, bei denen Start-ups und Industriepartner zusammengebracht werden“, berichtet das Unternehmen. „Für uns waren und sind dies beispielsweise chemstars oder das HIGH-TECH.NRW-Acceleratorprogramm.“

Simplyfined – biobasierte Plattformchemikalie aus Pflanzenölen
Simplyfined möchte die chemische Inudstrie neu denken: weg von fossilen Abhänigkeiten, hin zu lokal verfügbaren, nachwachsenden Ressourcen. Die Ausgründung der TU Dortmund setzt auf smarte Lösungen für einen zukunftsfähigen Rohstoffwandel. „Im Kern entwickeln wir eine Basischemikalie aus lokalen Biomassen, die entweder direkt in Anwendungen wie Schmierstoffen oder Kosmetika integriert werden kann“, sagt einer der Gründer. Die Krise 2022 habe gezeigt, wie abhängig die Chemieindustrie von fossilen Rohstoffen und damit von explodierenden Preisen, Versorgungsengpässen und Unsicherheiten entlang ganzer Lieferketten sei. Simplyfined setzt hier an – mit einem zukunftsfähigen, regional verankerten Lösungsansatz: „Wir ermöglichen die Herstellung von Basischemikalien aus nachwachsenden, lokal verfügbaren Rohstoffen. Simplyfined steht damit für eine Chemieindustrie von morgen – regional, robust und nachhaltig wettbewerbsfähig.“ Simplyfined betont die Wichtigkeit des Netzwerks, das breite Unterstützung liefert – wissenschaftlich und wirtschaftlich. Dies helfe nicht nur bei operativen Herausforderungen, sondern auch dabei, ihre Lösungen konsequent an den Bedürfnissen der chemischen Industrie auszurichten.