Spezial

Chemie, Physik und Co. im Kino

Der Kinematograph der Brüder Lumière.
Der Kinematograph im Filmmuseum Düsseldorf.
Die Brüder Louis und Auguste Lumière entwickelten den Kinematographen, der sowohl als Filmkamera als auch als Projektor diente und die Grundlage für das Kino legte.
Fotos: Simone Leuschner – VAA
Georges Méliès war ein französischer Filmpionier und Illusionist.
Filmpionier Georges Méliès.
Andreas Thein, Leiter der Sammlung im Filmmuseum Düsseldorf, am Schaukasten von Max Skladanowsky, der mit seinem Bruder Emil einen der ersten Projektoren erfand.
Andreas Thein, Leiter der Sammlung im Filmmuseum Düsseldorf.

Eine Wissenschaft für sich

Von Joachim Heinz und Simone Leuschner

Auf der To-do-Liste an kalten, dunklen Wintertagen: ein Heißgetränk, ein gutes Buch oder ein ebensolcher Film. Die Feuerzangenbowle beispielsweise lässt sich trinken und schauen. Sehr praktisch. Darum soll es aber in den nachfolgenden Zeilen nur am Rande gehen. Das VAA Magazin ist in die Bewegtbild-Archive gestiegen auf der Suche nach Filmen, in denen die Naturwissenschaften eine tragende Rolle spielen. Obacht: Kann Spuren von Chemie enthalten!

Eine der ersten Filmvorführungen der Welt fand vor einem überschaubaren Publikum statt. Rund 30 Zuschauer kamen am 28. Dezember 1895 im „Salon Indien“ des Pariser Grand Café zusammen, um sich elf kurze Bildkompositionen der Brüder Auguste und Louis Lumière anzuschauen. Dazu zählte auch die Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof des Mittelmeerstädtchens La Ciotat. Der Legende nach sorgte die Aufnahme für Furore, weil die Dampflok auf der Leinwand direkt auf die Gäste im Salon zuzufahren schien.

Ein weiterer Höhepunkt im Programm der Brüder Lumière: der rückwärts abgespielte Abriss einer Mauer, die auf diese Weise vor den Augen des staunenden Publikums ihre Wiederauferstehung feierte. Das alles ist jetzt 130 Jahre her und seitdem hat sich einiges geändert. Die Spezialeffekte von einst entlocken dem modernen Kinofan bestenfalls ein amüsiertes Lächeln. Nach Möglichkeit greift er zur 3-D-Brille oder lässt sich – Action muss sein – in beweglichen Sesseln durchrütteln. Und das Kürzel VR für „Virtual Reality“ verspricht dem Nutzer auch ohne Kino das Eintauchen in künstliche Filmwelten.

Das alles gäbe es nicht ohne den Beitrag der Naturwissenschaften. Schon der von den Gebrüdern Lumière entwickelte Kinematograph machte sich Erkenntnisse der Physik zunutze. Jules Carpentier, neben Charles Moisson einer der beiden maßgeblichen Ingenieure bei Lumière, konstruierte Galvanometer und andere Messgeräte, bevor er sich der Optik, der Fotografie und dem Film zuwandte. Hinter den Kulissen also spielten die Wissenschaften eine tragende Rolle: Wie aber sah es damit auf der Leinwand aus? Welche Verbindungen gingen Chemie, Physik oder Biologie mit einem auf Unterhaltung angelegten Medium ein?

Keine Raketenwissenschaft


Rückblende: Wir befinden uns im Jahr 1902. In Frankreich kündigt sich eine Revolution an. Regisseur Georges Méliès bringt den ersten Science-Fiction-Film in die Kinos. Mit 14 Minuten Länge hat „Die Reise zum Mond“ ein weiteres Alleinstellungsmerkmal, wie es in dem von Steven Jay Schneider herausgegebenem Kompendium „1.001 Filme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist“ heißt. Standard waren bis dato Kurzfilme von zwei Minuten.

Der Inhalt: Ein Professor namens Barbenfouillis wirbt auf einem Kongress der Astronomischen Gesellschaft unter seinen Kollegen für einen Flug zum Mond. Die Idee findet Anklang und wenig später werden Barbenfouillis und seine Mitreisenden in einer futuristisch aussehenden Kapsel ins All geschossen. Das Raumschiff landet im rechten Auge des Mondgesichts.

Zum weiteren Fortgang der Handlung ist in Schneiders Buch zu lesen: „Auf der Mondoberfläche stoßen die Forscher bald auf feindselige Bewohner, die Seleniten, und werden von ihnen gefangengenommen. Nachdem sie entdeckt haben, dass Feinde bei Berührung durch einen Regenschirm in einer Rauchwolke verschwinden, gelingt es den Forschern zu entkommen. Sie kehren zur Erde zurück, fallen ins Meer und erkunden die Tiefen des Ozeans, bis sie am Ende gerettet und in Paris als Helden gefeiert werden.“

Wagemutige Wissenschaftler, Reisen (zurück) in die Zukunft, die unendlichen Weiten des Alls: Das werden nach der Pioniertat von Méliès Grundzutaten vieler späterer Blockbuster sein. Die dabei realisierten filmischen Experimente wiederum setzten Maßstäbe für die gesamte Branche. Dafür steht Stanley Kubriks Epos „2001: Odyssee im Weltraum“ aus dem Jahr 1968. Kubricks Credo: „Ich habe versucht, ein visuelles Erlebnis zu schaffen.“

Das ist ihm nicht zuletzt durch eine Reihe von technischen Neuerungen gelungen, wie Thomas Binotto in seinen „Filmgeschichten für Kinofans“ schreibt. Dazu habe die sogenannte Frontprojektion gehört. Bis dahin sei die „Rückprojektion“ üblich gewesen, bei der ein Hintergrundbild von hinten auf die Leinwand projiziert worden sei, vor der dann die Schauspieler agierten, so Binotto. „Bei diesem Verfahren sieht man meistens sogar als Laie, dass zwei Bildebenen ‚zusammengekleistert‘ wurden.“

Anders bei der Frontprojektion. Hier wurde das Hintergrundbild von vorn auf die Leinwand geworfen, „und zwar durch einen vor der Kamera angebrachten halbdurchlässigen Spiegel“, erklärt der Autor. „Dadurch verschmolzen die beiden Bildebenen viel perfekter zu einer Einheit.“ Grundlage für Kubricks kurz vor der ersten Mondlandung entstandene „Weltraumoper“ war übrigens die Kurzgeschichte „The Sentinel“ von Arthur C. Clarke, seinerseits ein studierter Physiker und Mathematiker.

Neues aus den Laboren


Aus unbekannten Höhen in die Untiefen verborgener Laborwelten. Die verhalfen im Lauf der Filmgeschichte unheimlichen Wesen, später dann ebenso unheimlichen Viren zum Ausbruch. Von Frankenstein bis zum Zombie-Horrorfilm „The Outbreak“ reicht das Spektrum – als Urahn gilt manchen Experten ein lange verschollenes Werk: die sechsteilige Stummfilmreihe „Homunculus“. Darin erzählt Regisseur Otto Rippert die Geschichte eines künstlich erschaffenen Menschen, der Hass in sich trägt, aber nach Liebe sucht.

Erst 2014 konnte Filmhistoriker Stefan Drößler eine 196 Minuten lange rekonstruierte Version der Reihe auf den Bonner Stummfilmtagen präsentieren. Als die Episoden 1916 erstmalig in die Kinos kamen, zeigten sich die Kritiker begeistert: „Dieses Werk steht am Tore einer neuen Zeit der Lichtspielkunst“, urteilte beispielsweise die B.Z. am Mittag. Regisseur Rippert sollte drei Jahre später noch einmal für einen Kassenschlager verantwortlich zeichnen. Für „Die Pest in Florenz“ lieferte kein Geringerer als Filmgenie Fritz Lang das Drehbuch. Hier ging es allerdings weniger um das todbringende Bakterium Yersinia pestis als vielmehr um eine mit viel Aufwand inszenierte Zeitreise in das Italien der Renaissance.

Da lacht die Wissenschaft


Spannung und Dramatik – das fesselte die Zuschauer immer schon. Aber dazu gesellten sich von Beginn an Heiteres und Unsinn aller Art. Bereits die Gebrüder Lumière brachten das Publikum mit einer kleinen Slapstickeinlage über einen von einem jungen Strolch gepiesackten Gärtner zum Lachen. Bald schon etablierte sich die Figur des zerstreuten oder chaotischen Wissenschaftlers auf der Leinwand.

Und damit Vorhang auf für einen Klassiker im deutschsprachigen Raum. In „Die Feuerzangenbowle“ träumt der von Heinz Rühmann verkörperte Johannes Pfeiffer – mit drei „f“ – den wegen Privatunterrichts verpassten Schulbesuch nachzuholen. Seine Freunde überreden ihn dazu, sich als Oberprimaner in einem Gymnasium anzumelden. Dort stößt er auf die bezaubernde Mitschülerin Eva – und Lehrer wie den leicht affektiert redenden Chemieprofessor Crey.

Zu den vielen bis heute als Kult gefeierten Szenen der Komödie gehört die Episode, in der Crey seinen Schützlingen die alkoholische Gärung nahebringen will. Dazu dürfen die Schüler an dem vom Professor selbst hergestellten Heidelbeerwein nippen – „Jeder nur einen wönzigen Schluck, sonst steigt er in den Kopf!“ – woraufhin die gesamte Klasse auf Betreiben Pfeiffers so tut, als sei sie nach der Verkostung komplett betrunken. Die Stunde läuft erwartungsgemäß aus dem Ruder.

Munter geht es auch in „Der Mann mit dem weißen Anzug“ zu, einer britischen Komödie aus dem Jahr 1951. Darin mimt der großartige Alec Guinness einen Jungchemiker, der eine reißfeste und abnutzungsresistente Kunstfaser entwickelt, die jedoch niemand haben will – weil die Arbeiter um ihre Jobs und die Textilindustrie um ihre Gewinne fürchtet, sollten die Umsätze beim Stoffverkauf sinken. 

Ebenfalls mit einem Chemiker in der Hauptrolle besetzt ist die US-Screwball-Comedy „Monkey Business“ von 1954. In dem Film experimentiert ein gewisser Barnabas Fulton, dargestellt von Superstar Cary Grant, mit chemischen Substanzen, um eine Verjüngungstinktur zusammenzumischen. Ebenfalls mit von der Partie: Marylin Monroe.

Jenseits des Eisernen Vorhangs


Mehr Subtext als Hollywood wollten manche Werke aus dem kommunistischen Osten liefern. So wie die DEFA-Produktion „Chemie und Liebe“. Hier geht es um einen Chemiker, dem es gelingt, aus Gras oder Moos Butter herzustellen. Als der Film 1948 in die Kinos kam, hatte diese Utopie durchaus einen sehr realen Sitz im Leben: Die Nahrungsengpässe nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten immer noch das Leben vieler Menschen.

Über die „gesellschaftskritische Komödie“ schreibt Barbara Mayr auf dem Portal filmreporter.de: Sie zeige „satirisch die Schwächen und Fehler des kapitalistischen Systems, seine Auswüchse und Entartungserscheinungen“ und prangere den Kapitalismus der westlichen Länder an.

Als ein Meilenstein in der DDR-Filmgeschichte gilt vielen Kritikern allerdings eine andere Produktion, in der ebenfalls ein Chemiker an entscheidender Stelle auftritt. Eberhard Esche gibt in „Der geteilte Himmel“ den am kommunistischen System zweifelnden Manfred Herrfurth, Renate Blume seine Freundin Rita Seidel, die sich schließlich dafür entscheidet, im Osten Deutschlands zu bleiben, nachdem sich Manfred nach West-Berlin abgesetzt hat. Der Film von 1964 basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Christa Wolf, die im Jahr zuvor veröffentlicht wurde. Unlängst erst stellte der deutsch-französische TV-Sender Arte die Produktion noch einmal in seine Mediathek.

Nahe an der Realität


Manchmal, auch das lehrt der Blick in die Geschichte, kommt die Realität dem Film ziemlich nahe – oder umgekehrt. „Das China-Syndrom“ mit Jane Fonda, Jack Lemmon und Michael Douglas ist so ein Fall. Kurz nachdem der Streifen über einen Störfall in einem US-Kernkraftwerk 1979 in den Kinos gestartet war, kam es im Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg tatsächlich zu einer partiellen Kernschmelze.

Auf einer wahren Begebenheit beruht das Drama „Vergiftete Wahrheit“ von 2019. Der Film setzt einen Umweltskandal samt jahrelanger Auseinandersetzung zwischen dem Anwalt Robert Bilott und dem Chemiekonzern DuPont in Szene. Das von der Bundeszentrale für politische Bildung betriebene Portal kinofenster.de bot im Anschluss sogar Unterrichtsmaterialien an und hielt fest: „Im Chemieunterricht können die Eigenschaften der Perfluoroctansäure besprochen werden, die zu den ‚Forever Chemicals‘ zählt und als höchst krebserregend gilt. Was zeichnet die Verbindung aus, welchen praktischen Nutzen hat das Material und warum ist es für Tiere und Menschen so gefährlich?“

In einer ganz eigenen Liga spielt das dreistündige Biopic „Oppenheimer“ über den „Vater der Atombombe“, den Physiker Julius Robert Oppenheimer. Bei den Oscar-Verleihungen 2024 räumte der Film von Regisseur Christopher Nolan bei dreizehn Nominierungen sieben der begehrten Auszeichnungen ab. „Wenn die Atombombe gezündet wird und die Leinwand für einige Sekunden von Blitzen, Flammen und einer gigantischen Explosion beherrscht wird, kehrt im Saal eine Stille ein“, schrieb Simone Lo Bartolo in der Zeitschrift GQ. Offenbar kann die Verbindung von Kino und Wissenschaft auch 130 Jahre nach der ersten Vorstellung immer noch magische Momente erzeugen.

Rezept für Feuerzangenbowle


Wie der Film, so das Getränk – so geht die Zubereitung der Bowle für eine größere Gästeschar, online beschrieben in der Diamant Community auf www.diamant-zucker.de: Man braucht zwei Bio-Orangen, zwei Bio-Zitronen, 700 Milliliter Rum (mindestens 54 Volumenprozent), vier Flaschen trockenen Rotwein à 0,7 Liter, drei bis vier Nelken, zwei Zimtstangen, einen Zuckerhut. Benötigt werden außerdem ein großes Gefäß für die Bowle sowie eine Feuerzange. Die Zitrusfrüchte heiß abwaschen und die Hälfte davon in Scheiben schneiden. Die andere Hälfte auspressen und den Saft sieben. Die Rumflasche verschlossen in warmem Wasser temperieren. Rotwein mit Saft, Zitrusscheiben und Gewürzen in einem Topf erhitzen, aber nicht kochen. Den Zuckerhut auf einer Feuerzange über den Topf legen, vollständig mit Rum tränken und sofort anzünden. Achtung: Den Rum niemals direkt aus der Flasche gießen, sondern immer eine Schöpfkelle verwenden! Sobald die Flamme zu verlöschen droht, mit einer Schöpfkelle Rum nachgießen. Wenn der ganze Zuckerhut in den Wein getropft ist, die Zange vom Topf nehmen und Zitrusscheiben und Gewürze entfernen. Die Feuerzangenbowle heiß in Gläsern servieren. 

Abgedreht – Filmszenen im Urteil der Wissenschaft


Ja, ist denn das die Möglichkeit? Wer sich etwa Filme aus der James-Bond-Reihe anschaut, staunt nicht selten über die waghalsigen Aktionen des britischen Geheimagenten auf der Leinwand. Im vergangenen Jahr nahm sich Physikprofessor Guido Reuther eine legendäre Szene aus „Goldeneye“ (1995) vor. Darin stürzt sich Bond von einer Bergklippe ab, um ein Flugzeug im freien Fall einzuholen und zu entern. „Theoretisch ist es möglich“, zitierte die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig den Fachmann, „zumindest, wenn Bonds Körper 32-mal windschnittiger wäre als das Flugzeug selbst“, folgte direkt die einschränkende Ergänzung.

Reuther ist nicht der erste, der auf diese Weise populäre Filme durch die Brille der Naturwissenschaften betrachtet. Seinen Kollegen Metin Tolan interessierten laut einem Beitrag des Nachrichtenmagazins Der Spiegel von 2009 Bonds Vorliebe für geschüttelte, nicht gerührte Martinis. „Die Alkoholmoleküle werden an die Oberfläche und in den ersten Schluck geschüttelt“, so Tolan. „Und das ist nicht unwichtig für Bond, der ja immer nur einen Schluck im Vorbeigehen nimmt und dann weiter die Welt rettet.“

Der 2015 verstorbene Wiener Astrophysiker Heinz Oberhummer unterhielt mit dem Projekt „Cinema and Science“ sogar eine eigene – inzwischen allerdings aus dem Netz genommene – Website zum Thema. Oberhummer beschäftigte sich unter anderem mit Actionklassikern wie „Stirb langsam“ oder „Spiderman“. „Der Wissenschaftler wird zwar bei den meisten Filmen ungläubig den Kopf schütteln und vieles zurechtrücken wollen“, bilanzierte Bettina Gartner in einem 2007 publizierten Beitrag für die Zeitschrift Bild der Wissenschaft. „Doch am Ende wird auch er froh sein, dass es neben erklärbaren Fakten und Tatsachen noch Fantasien und Träume gibt.“
 

Interview mit Filmwissenschaftlerin Lisa Gotto

Filmwissenschaftlerin Lisa Gotto
Foto: Barbara Mair – Uni Wien

„Das Labor wird zum Sinnbild“

Im Kino gehören Wissenschaftler seit den Anfängen zum festen Figurenarsenal, sagt Filmwissenschaftlerin Prof. Lisa Gotto. Im Interview mit dem VAA Magazins erklärt die Professorin für Theorie des Films am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, welche Filmschätze sie für besonders sehenswert hält. Und warum Laborwesen wie Frankenstein die Menschen immer wieder aufs Neue faszinieren.

VAA Magazin: Blicken wir kurz in die Filmgeschichte: Ab wann begegnen uns Wissenschaftler beziehungsweise Naturwissenschaftler und welche Rollen übernehmen sie bevorzugt?

Gotto: Wissenschaftler gehören seit den frühesten Tagen des Kinos zum festen Figurenarsenal. Bereits im frühen 20. Jahrhundert, etwa in Georges Méliès’ Le Voyage dans la Lune (1902), treten sie als Erfinder, Träumer und Grenzgänger auf. Im weiteren Verlauf der Filmgeschichte differenzieren sie sich in verschiedene Ideologeme aus, die zwischen genialem Visionär, gefährlichem Überheber und moralisch zweifelndem Humanisten oszillieren. Ob als Schöpfer von Leben, Zerstörer von Welten oder Opfer des eigenen Wissens: In allen Epochen bleibt die Figur des Wissenschaftlers Projektionsfläche kultureller Aushandlungen von Forschung, Macht und Ethik. Das Kino nutzt sie, um das Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen Schöpfung zu inszenieren und zugleich die Bedingungen des Mediums als Bildmaschine zu reflektieren.

Welche weniger bekannten Filme sind zu empfehlen und warum?

Drei besonders interessante Beispiele sind „The Absent-Minded Professor“ (Robert Stevenson, 1961), „The Andromeda Strain“ (Robert Wise, 1971) und „Altered States“ (Ken Russell, 1980). In „The Absent-Minded Professor“ wird Wissenschaft humorvoll als kreatives Chaos inszeniert: Der Forscher erscheint als sympathischer Träumer, dessen Experimente buchstäblich abheben. „The Andromeda Strain“ markiert dagegen einen Wendepunkt: Forschung wird hier als kollektiver, hochtechnologischer Prozess verhandelt, der von Rationalität, Kontrolle und Isolation geprägt ist. „Altered States“ schließlich bietet eine metaphysische Variation des Laborfilms, in der wissenschaftliche Experimente zum Medium mystischer Selbsterfahrung werden. Diese Filme sind nicht nur Darstellungen von Wissenschaft, sondern verstehen auch das Kino selbst als eine Form des Experimentierens: als Ort, an dem Erkenntnis, Wahrnehmung und Imagination ineinandergreifen.

Aus welchen Gründen begeisterten sich Filmemacherinnen und Filmemacher schon sehr früh für Laborwesen à la Frankenstein oder psychologische Phänomene wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde?

Diese Stoffe bündeln zentrale Fragen der Moderne: Was ist der Mensch und wo liegen die Grenzen seiner Gestaltungskraft? Das Labor wird zum Sinnbild des Wunsches, das Leben selbst zu verstehen und zu beherrschen. Figuren wie Frankenstein oder Jekyll verkörpern zugleich den Fortschrittsglauben und die Angst vor dessen Konsequenzen. Für das Kino als technische Kunst ist diese Spannung besonders reizvoll: Es spiegelt in der Figur des Wissenschaftlers auch die eigene Faszination für das Erschaffen künstlicher Welten.

Zugleich eröffnen diese Geschichten eine psychologische Dimension: Sie verhandeln das Verhältnis von Bewusstsein, Körper und Kontrolle – und machen die Angst vor dem Verlust des Selbst sichtbar, die mit wissenschaftlicher Hybris wie mit filmischer Illusion einhergeht. So steht das Labor immer auch für das Kino selbst: Beide erzeugen Wirklichkeit durch technische Apparaturen und kontrollierte Bedingungen. Die anhaltende Faszination rührt daher, dass Film und Wissenschaft im Kern dieselbe epistemologische Geste teilen – den Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Zahlen und Fakten

Alter, ausgebleichter Kinofilm mit Flecken auf dem Film.
Foto: SILLFX – Shutterstock

Am 1. November 1895
initiierte Max Skladanowsky mit seinem Bruder Emil mit dem Wintergartenprogramm im Berliner Varieté Wintergarten die weltweit erste öffentliche Filmvorführung vor zahlendem Publikum. Die Brüder Skladanowsky gelten – darüber wird durchaus diskutiert – als deutsche Erfinder des Films, experimentierten sie doch erstmals mit fotografischen Bildsequenzen. Sie hatten die großartige Idee, Bilder in Bewegung zu versetzten. Diese wurden auf Papierstreifen kopiert und einzeln hintereinandergelegt: Beim Durchblättern kam so Bewegung in die Aufnahmen, die „Kurbelkiste I“ entstand. Zur gleichen Zeit perfektionierten die Gebrüder Lumière den Kinematographen, einen Apparat zur Herstellung und Vorführung chronofotografischer Bilder, der sowohl als Filmkamera als auch als Filmprojektor fungierte. Das Vorbild ihres Kinematographen kam allerdings bereits im Jahr 1891 von William Kennedy Laurie Dickson, einem Ingenieur aus dem Umfeld des weltbekannten Erfinders und erfolgreichen Geschäftsmanns Thomas Alva Edison. Für die deutsche Filmindustrie allerdings gelten Max und Emil Skladanowsky als Erfinder Films, betont Andreas Thein deutlich.

Von sechs bis 24 Bilder
die Sekunde Filmstreifen bestehen aus einzelnen Motivframes, die mit der Zeit immer schneller aneinandergereiht wurden: von den ersten Stummfilmen bis zum Sensationsfilm, dem heutigen Actionfilm. Von langsamen Bewegungsszenen bis hin zu actionreichen, wechselnden Handlungen in ständig veränderten Kulissen und extravaganter Filmherstellung. Die Geschichte des Films hat über die Jahre richtig Fahrt aufgenommen: „Und das geht Anfang der Zehnerjahre los“, berichtet Andreas Thein. Junge Filmemacher und Schauspieler taten die ersten richtigen Gehversuche, sich in Sensationsfilmen aus mehreren Akten auszuprobieren. „Und dann wurden für möglichst viel aktionsreiches Ausgangsmaterial gleich mehrere Kameras genutzt: Die erste Kamera setzt den Detektiv in Szene, Kamera zwei filmt eine actionreiche Verfolgungsjagd mit einem Motorbike und einem Auto und am Ende wurde alles in raffinierten Schnitttechniken zusammengefügt.“ Endgültig festgelegt auf 24 Bilder pro Sekunde hat man sich dann mit der Einführung des Tonfilms, der auf eine klar definierte Bildgeschwindigkeit angewiesen war.

Schon bei unter 40
Grad Celsius besteht Explosionsgefahr bei alten, gelagerten Filmträgern auf Nitratbasis, sogenannten Nitrocellulosefilmen, die sich bereits im Zersetzungsprozess befinden, denn während der Zersetzung bilden sich gasförmige Stoffe. Die für Nitrofilm verwendete Zellulosenitratbasis ähnelt dem Grundstoff des rauchschwachen Schießpulvers, der Schießbaumwolle – und das macht das Filmmaterial so feuergefährlich. Frischer Nitrofilm hingegen entzündet sich bei circa 130 Grad. Es kam immer wieder vor, dass Nitrofilme auch bei Vorführungen in Brand gerieten und alles schnell lichterloh brannte. Andreas Thein, Leiter der Sammlung und Restaurierung des Filmmuseums Düsseldorf bestätigt, dass es eine lange Zeit dauerte, bis die Industrie einen Film gefunden hatte mit derselben Trägereigenschaften eines Nitrofilms, der aber sicher war. Erst 1951 löste der Safetyfilm (Sicherheitsfilm) den Nitrocellulosefilm ab, dessen Verwendung in der Bundesrepublik Deutschland ab 1957 gesetzlich verboten wurde. „Ein Funke vom rauchenden Vorführer, eine Kerze oder eben zu heißes Material reichte und dann ist der Filmstreifen in Flammen aufgegangen“, erklärt Thein.

Das 20. Jahrhundert
war bezeichnend für die Weiterentwicklung des Schwarzweißfilms. Man begann, Schwarzweißfilme einzufärben, zu viragieren. Einerseits durch Tinting: Hier wird die Kopie eines Filmstreifens in Bäder mit organischen Farbstoffen gelegt. Die Farbstoffe lagern sich in der Gelatine des gesamten Filmbands ab und und färben dieses in der gewünschten Farbe ein. Während der Projektion sind die transparenten Bereiche des Bildes, die Farbe tragen, sichtbar (Himmel mit Wölkchen), während auf den dunklen Stellen nichts zu sehen ist. Im Prozess des Tonings hingegen werden schwarzweiße Filmteile ebenfalls in Bäder gelegt, in denen ein chemischer Prozess das im Bild enthaltene Silbersalz gegen Farbsalze austauscht, die unter anderem auf der Basis von Schwefel (gelb), Kupfer (rot) oder Eisen (blau) hergestellt wurden. Bei diesem Verfahren sind die vorher dunklen, also silberhaltigen Teile des Bildes nun farbig, während die hellen Stellen, die wenig Silbersalz enthielten, die Farbe kaum angenommen haben. In Deutschland wurden Stummfilme bis Ende der 1920er Jahre auf diese Weise farbig gemacht.

In den 1950er Jahren
steigerte sich der Hype des Filmeinfärbens bis ins Extreme. „Technicolor war das große, neue Farbverfahren aus Amerika“ schwärmt Andreas Thein. „Extrem krasses Rot, besonders tiefes Blau, Sonnenuntergang Orange. Für besondere Szenen hat man, weil es halt einfach ein teurer Prozess gewesen ist, diese Technik benutzt, wenn Stellen besonders emotional oder intensiv sein sollten. Und dann war es tatsächlich so, dass dann einer von der Firma des Filmherstellers immer auch mit am Set war, um das Farbgrading, die richtige Einstellung dieser Technik mit dem Kameramann abzusprechen. Man war stolz auf diese neue Technicolor-Methode, aber die Technik war eben kompliziert.“

1911 lebte der „Dynamitregisseur“ 
Harry Piel kurzzeitig in Paris. Ursprünglich stammte der deutsche Filmregisseur, Schauspieler und Produzent aus Düsseldorf. Beinahe komplett vergessen, war er der international erfolgreichste Genrefilmer der 1920er Jahre. Er wollte eigentlich Kunstflieger werden, kam über seinen Vermieter in Kontakt zum Filmgeschäft und begann seinen Werdegang mit ersten Filmen 1912. Ab 1919 war Piel auch Hauptdarsteller in seinen eigenen Filmen und wurde für seine waghalsigen Stunts sehr bekannt. Andreas Thein aber kennt noch mehr Hintergründe: „Harry Piel galt als der Dynamitregisseur, weil er sich in irgendeiner Kneipe in Berlin mit einem Sprengmeister angefreundet hatte. Und immer, wenn dieser eine Sprengung im Auftrag zu erledigen hatte, informierte er fortan Piel, der die festgehaltene Szene in seine Filme einfach einbaute.“ Am Ende wurden dann auch Züge und Brücken gesprengt, für einen gesteigerten Schauwert sehr dienlich und in dieser Häufigkeit einzigartig in seiner Zeit. „Harry Piel konnte sich extrem gut in Szene setzen, er war nicht besonders auffällig, hatte dunkle Haare und eine knubbelige Nase, war eher stämmig, aber mit Charme und Charisma ausgestattet bis zum Umfallen.“