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Weniger Führungsebenen, größere Führungsspannen, klarere Zuständigkeiten – mit dem Programm „Evonik Tailor Made“ – kurz ETM – stellt sich der Chemiekonzern Evonik Industries strategisch neu auf. Randolf Bursian, Leiter des ETM-Programms, erläutert im Interview mit dem VAA Magazin die Hintergründe. Zugleich erklärt die Vorsitzende der VAA-Kommission Führung Katja Rejl die überbetriebliche Perspektive und ordnet die Veränderungen ein.
VAA Magazin: Herr Bursian, Evonik hat mit ETM ein ambitioniertes Programm gestartet. Worum geht es dabei konkret?
Bursian: Evonik Tailor Made – abgekürzt ETM – ist ein breit angelegtes Transformationsprogramm, mit dem wir Komplexität reduzieren und unsere Organisation zukunftsfähig machen wollen. Es geht nicht nur um die Verwaltung, sondern um den gesamten Konzern – von operativen Einheiten bis hin zu Konzernrichtlinien. Unser Ziel: weniger Führungsebenen, größere Führungsspannen, klarere Verantwortlichkeiten.
Rejl: Genau diese Themen bewegen viele Unternehmen in der Branche. In der VAA-Kommission Führung haben wir festgestellt, dass sich die Führungsspanne vielerorts vergrößert – oft ohne die nötige Begleitung. Deshalb ist es spannend, wie Evonik das Thema strategisch und systematisch angeht.
Ganz genau. Aber was heißt das bei Evonik konkret in Zahlen?
Bursian: Wir hatten früher bis zu elf Führungsebenen – das verschlankt sich künftig auf sechs. Zudem streben wir eine Führungsspanne von eins zu sieben an. Dafür nutzen wir bewusst den Median als Steuerungsgröße, nicht starre Mindestgrößen oder Durchschnittswerte. Das erlaubt mehr Flexibilität – auch bei kleinen Teams mit spezifischen Aufgaben.
Rejl: Der Medianansatz ist interessant, weil er Ausreißer abfedert. In der Kommission haben wir diskutiert, wie Führung in großen im Gegensatz zu kleinen Teams erlebt wird. Die Erfahrung zeigt: Es braucht Spielräume – und die liefert der Median eher als starre Vorgaben.
Welche Auswirkungen hat das auf Beschäftigte und Führungskräfte?
Bursian: Wir haben offen kommuniziert: 1.500 Stellen von Führungskräften werden reduziert – etwa ein Drittel unserer bisherigen Führungsstruktur. 500 Stellen entfallen dabei ganz, 1.000 Führungskräfte wechseln in Rollen ohne Führungsverantwortung. Dies ist kein verdeckter Abbau, sondern ein bewusster Umbau. Die individuellen Bedingungen regeln wir fair.
Wie haben die Betroffenen reagiert?
Bursian: Nach unseren bisherigen Erfahrungen hat die überwiegende Mehrheit der Betroffenen konstruktiv reagiert, weil sie die Notwendigkeit sehen, Komplexität zu reduzieren und damit verstehen, warum dieser Umbau notwendig ist. Wichtig war die enge Einbindung aller Einheiten und Arbeitnehmervertretungen. Mit dem Gesamtsprecherausschuss und dem Gesamtbetriebsrat haben wir bereits über 30 Vereinbarungen getroffen. Klar ist für uns alle: Veränderung braucht Akzeptanz – und die erreicht man nur mit Transparenz und ehrlicher, offener und klarer Kommunikation.
Rejl: Und mit einem nachvollziehbaren Zielbild. Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Karrieren stellt sich trotzdem: Weniger Ebenen bedeuten weniger klassische Aufstiegsmöglichkeiten.
Bursian: Stimmt. Aber wir beobachten auch, dass viele frühere Führungsstellen gar nicht mehr attraktiv waren – etwa, wenn jemand nur zwei oder drei Teammitglieder führt. Heute sind die verbleibenden Führungsrollen anspruchsvoller und auch spannender. Gleichzeitig gewinnen Expertenkarrieren an Bedeutung.
Wie unterstützen Sie Führungskräfte im Wandel?
Bursian: Mit einem transparenten und klar strukturierten Change-Prozess. Wir haben Zielbriefe erarbeitet, teilweise 15 Seiten lang, und für jede Maßnahme klare Verantwortlichkeiten und Zeitscheiben definiert. Mit den Einheiten arbeiten Change-Teams, die Workshops durchführen, Rückmeldungen einholen und Führungskräfte begleiten. Die Verstetigung der Veränderungen wird dabei fortlaufend analysiert und qualitativ als auch quantitativ gemessen.
Eine interessante Frage kommt bei Optimierungen der Führungsebenen immer wieder auf: Führt weniger Hierarchie auch zu schnelleren Entscheidungen?
Rejl: Ganz genau. Das diskutieren wir auch immer wieder in der Kommission Führung. So viel vorweg: Die Meinungen dazu gehen bei unseren Mitgliedern auseinander. Weniger Ebenen können Entscheidungen durchaus beschleunigen – oder auch lähmen, wenn Führungskräfte überlastet sind. Hier kommt es aus meiner Sicht ganz auf die konkrete Unternehmenskultur an.
Bursian: Das kann ich verstehen. Aber unsere Erfahrung ist hier, das sage ich auch aus meiner langjährigen Erfahrung als Leiter HR bei uns im Unternehmen: Ja, im Großen und Ganzen wird es definitiv schneller. Die Entscheidungswege sind kürzer und Mitarbeitende übernehmen mehr Verantwortung. Operative Entscheidungen müssen seltener durch mehrere Hierarchien. Unser Vorstand ist jetzt auch näher an den Einheiten dran. Wir haben allein zwei Vorstandsmitglieder, welche unsere Geschäftseinheiten direkt führen und so im operativen Geschäft mittendrin sind.
Welche Rolle spielt die Unternehmenskultur bei dieser Art von Wandel? Evonik ist ja gewachsen aus verschiedenen Unternehmensteilen, die jeweils auf eine eigene, teils sehr lange Historie zurückblicken.
Bursian: Die Unternehmenskultur spielt natürlich eine große Rolle. Aber bei uns ist klar zu erkennen: Historische Eigenheiten lösen sich immer mehr auf – etwa gewachsene Strukturen in IT-Systemen oder spezifische Prozesslandschaften einzelner Standorte. Die Kultur wird homogener, das Unternehmen tritt klarer als Einheit auf.
Gibt es eigentlich auch organisatorische Einschnitte jenseits der Führungsspannen?
Bursian: Ja. Wir bauen Matrixstrukturen ab, beseitigen überflüssige Schnittstellen und reduzieren unsere sehr zahlreichen Organisationseinheiten auf die Hälfte. Auch Prozesse wie Order-to-Cash-Verfahren wurden grundlegend überarbeitet. Dabei haben wir bewusst nicht in bestehenden Strukturen gedacht, sondern prozessual analysiert – unabhängig von Organisationsgrenzen.
Rejl: Das ist bemerkenswert. Viele Unternehmen fangen bei der Aufbauorganisation an und optimieren nur innerhalb bestehender Strukturen. Evonik scheint hier wirklich zu zeigen, dass man anders denken kann – und vielleicht auch muss.
Ganz aus dem Bauch heraus gefragt: Hat sich der Aufwand gelohnt?
Bursian: Ganz klares Ja! Der Wandel ist spürbar, die Akzeptanz hoch. Wir investieren Zeit, Geld und Energie in den Umbau – aber das ist gut investiert. Denn so wie bisher konnte es nicht weitergehen. Die Notwendigkeit für Veränderungen war nicht nur ein strategisches Ziel, sondern ein konkretes Bedürfnis. Der Aufwand, die Strukturen aufrechtzuerhalten, war nicht mehr gerechtfertigt. Wir haben zu viel Energie ins Management von Komplexität gesteckt, die keinen Mehrwert gebracht hat. Das sind sicherlich Dinge, die am Ende alle großen Chemieunternehmen betreffen, gerade in der doch mitunter ziemlich herausfordernden wirtschaftspolitischen Rahmensituation in den letzten Jahren.
Worauf sollten Unternehmen achten, um Akzeptanz bei den Betroffenen zu erreichen?
Bursian: Klare, rechtzeitige Kommunikation der jeweils vorgesehenen Maßnahmen. Und faire Konditionen bei Rollenveränderungen – es gibt im Rahmen von ETM grundsätzlich keine pauschalen Rückstufungen und auch keine automatische Entgeltanpassung. Das war ein zentraler Punkt, um Vertrauen zu schaffen und die Akzeptanz des Programms zu sichern. Wir haben den Einheiten viel Verantwortung überlassen, um die passenden Lösungen vor Ort zu finden. Das zentrale Programmteam hat nur den Rahmen gegeben, aber die eigentliche Ausgestaltung lag bei den Teams aus den Einheiten. Das hat geholfen, praktische und passgenaue Strukturen zu schaffen.
Heißt das: Führungsebenen delegieren weniger und entscheiden mehr?
Bursian: Ja. Entscheidungen werden jetzt dort getroffen, wo sie hingehören. Das bedeutet natürlich auch mehr Verantwortung für die Mitarbeitenden – aber genau das stärkt die Organisation. Wir wollten nicht zentralisieren, sondern befähigen. Diese Führungsveränderung ist mindestens so wichtig wie die strukturellen Anpassungen.
Was die Führungsspanne betrifft: Die Eins-zu-sieben-Spanne ist sicherlich kein Dogma. Es gibt gute Gründe für kleinere Führungsspannen – etwa in Bereichen mit hoher Komplexität oder Spezialwissen wie Labor und Produktion. Deshalb arbeiten wir bewusst mit dem Median als Richtgröße und nicht mit einem fixen Sollwert, der überall gilt.
Wie begleiten Sie den Change-Prozess weiter?
Bursian: Natürlich beobachten wir, wie sich die neue Struktur bewährt. Die Transformation ist kein einmaliges Projekt, sondern ein fortlaufender Prozess. Wir passen regelmäßig an, evaluieren Rückmeldungen aus den Teams, begleiten die Einheiten bei der Implementierung und entwickeln unsere Ansätze weiter. Veränderung ist nie abgeschlossen.
Katja Rejl ist Vorsitzende der VAA-Kommission Führung und war lange als Führungskraft bei Merck und Deloitte tätig. Seit August 2025 ist Rejl Leiterin Supply Chain Planning und Logistics bei der DAW in Ober-Ramstadt.