Spezial

Bergung von Weltkriegsmunition

Ein Taucher vor dem Tauchgang zur Munitionsbereinigung in der Ostsee.
Foto: Achim Multhaupt – BMUKN
Sonnenuntergang an der Ostseeküste
Foto: Patryk Kosmider – iStock
Weltkriegsmunition am Meeresboden der Ostsee
Foto: GEOMAR
Rückstände von Munitionschemikalien finden sich unter anderem in Muscheln.
Rückstände von Munitionschemikalien finden sich unter anderem in Muscheln. Foto: Edmund Maser
Weltkriegsmunition am Meeresboden der Ostsee
Foto: GEOMAR
Das Spezial-U-Boot ABYSS vor dem Tauchgang zur Munitionsbereinigung in der Ostsee.
Foto: E. Wenzlaff – GEOMAR
Ein Taucher taucht über einem Wrack am Meeresboden.
Foto: Krofoto – Shutterstock
Forschungsausrüstung zur Munitionsbergung in der Ostsee
Foto: Ilka Thomsen – GEOMAR
Auslaufen des GEOMAR-Forschungsschiffes ALKOR
Foto: Maike Nicolai – GEOMAR
Mit autonomen Unterwasserfahrzeugen kartieren Jens Greinert und sein Team den Meeresboden.
Mit autonomen Unterwasserfahrzeugen kartieren Jens Greinert und sein Team den Meeresboden. Foto: Ilka Thomsen – GEOMAR
Bergung von Weltkriegsmunition aus der Ostsee
Foto: Marc Seidel – GEOMAR
Munitionskistenhaufen in der Lübecker Bucht
Munitionskistenhaufen in der Lübecker Bucht. Foto: GEOMAR
Vor der norwegischen Nordesseküste liegen die Reste der „Tirpitz“.
Vor der norwegischen Nordesseküste liegen die Reste der „Tirpitz“. Foto: VasekCZ – Shutterstock

Mission Meeresboden – Operation auf hoher See läuft endlich an

Von Joachim Heinz und Simone Leuschner

Gerade im Sommer sind Nord- und Ostsee beliebte Ferienziele. Sonnenanbeter und Badegäste bevölkern zu Scharen die Strände. Am Horizont ziehen Segelboote und Fahrgastschiffe vorbei. Dass auf dem Meeresgrund tonnenweise Munition aus dem Zweiten Weltkrieg vor sich hin rotten, passt nicht in das Idyll. Jahrzehntelang wurde das Problem ignoriert. Inzwischen suchen Naturwissenschaftler, Ingenieure und Politiker nach Lösungen.

„Wenn man da mit Angst rangeht, ist man falsch im Job. Aber man muss sich der Gefahren stets bewusst sein.“ Spricht Diplom-Geophysiker Karsten Stürmer über seine Arbeit, kann dem Laien schon mal ein Schauer über den Rücken laufen. Wenn in der Nordsee ein Offshore-Windpark gebaut wird oder am Grund der Ostsee Kabel verlegt werden, ist der Fachplaner für Kampfmittelräumung zur Stelle. Er sorgt in einem Team von Spezialisten dafür, dass der Meeresgrund, in dem beispielsweise die Fundamente für die Windräder verankert werden, frei ist von Granaten oder Seeminen.

Die meisten dieser Kampfmittel stammen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Vieles davon wurde unmittelbar nach Kriegsende im Meer versenkt. Ein Grund: Die Alliierten wollten verhindern, dass Waffen und Munition in den Händen der Deutschen blieben. Eine Verklappung auf See erschien damals als die einfachste Lösung. Im Akkord wuchteten Fischer, Seeleute und Militärs damals die explosive Fracht ins Wasser.

Fachleute schätzen, dass allein in den deutschen Gewässern der Nord- und Ostsee 1,6 Millionen Tonnen Kampfmittel liegen – von Pistolenmunition über Minen bis hin zu Sprengköpfen von V1- und V2-Raketen. Dazu kommen mutmaßlich 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe in Bomben, Granaten und anderen Behältern aus Stahl: Clark, Senfgas, Phosgen oder Tabun.

Während Bombenentschärfungen auf dem Festland wie zuletzt in Köln, Göttingen oder Kiel mit groß angelegten Evakuierungsmaßnahmen regelmäßig für Schlagzeilen sorgen, kümmerten sich Behörden und Öffentlichkeit jahrzehntelang bestenfalls sporadisch und punktuell um das vor den Küsten schlummernde explosive Erbe des Krieges. Im Jahr 2023 startete die Ampelkoalition ein „Sofortprogramm Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“. Ziel: die Entwicklung eines Verfahrens, mit dem sich die Munition in großem Stil bergen und ohne Schäden für die Umwelt entsorgen lässt.

Das Vorhaben will die neue Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz fortsetzen, wie eine Sprecherin des Bundesumweltministeriums auf Anfrage des VAA Magazins bestätigt. Sie verweist auf die entsprechenden Passagen im Koalitionsvertrag. Daraus geht auch hervor, dass ein „Bundeskompetenzzentrum mit Sitz in den östlichen Bundesländern“ die Arbeit von Wissenschaftlern, Privatwirtschaft und Behörden zusammenführt.  Im August und September 2024 haben unter Leitung des Projektkoordinators für das Sofortprogramm, der Seascape GmbH in Hamburg, Räumungen in drei Versenkungsgebieten in der Lübecker Bucht stattgefunden.

In diesem Sommer werden die Experten die Probebergungen im vierten und letzten Pilotierungsgebiet abschließen. Es liegt vor der Küste von Mecklenburg-Vorpommern, in der Nähe von Boltenhagen. Dann ist auch Karsten Stürmer wieder mit von der Partie. Er kann sich gut an seine Eindrücke bei der ersten Erkundung in der Lübecker Bucht erinnern, an der er beteiligt war. Ein „Sammelsurium von schätzungsweise 1.000 bis 1.500 Munitionskisten“ hätten die Unterwasseraufnahmen von Tauchrobotern seinerzeit stellenweise gezeigt.

„Als die ersten Kisten durch Taucher vorsichtig geöffnet, in die Körbe geladen und dann schließlich an Bord gezogen wurden, um im Wasch- und Sortierbereich zu landen, war das schon ein besonderer Moment“, berichtet Stürmer. Überrascht habe ihn vor allem der unterschiedliche Zustand der Kisten. „Wir hatten Munitionskisten, die der ursprünglichen Erwartungshaltung entsprachen: stark verrostet, teilweise zu ganzen Sprengstoffsedimentblöcken verbacken, auf denen Muscheln und Seesterne siedelten“, so der Diplom-Geophysiker. „Und dann machen Sie andere Kisten auf und denken: Aus welcher Fabrik kommen die denn gerade?“ Einzelne der Zwei-Zentimeter-Patronen seien dermaßen gut erhalten gewesen, dass ihm spontan durch den Kopf gegangen sei: „Die könntest Du glatt nochmal durchs Rohr schicken.“

Gefährliches Erbe für Mensch und Umwelt

Einstweilen hat die Bergungscrew die Munition bis zu einer endgültigen Bergung wieder auf den Meeresgrund verbracht. Sicher verpackt, „damit keine Schadstoffe austreten oder sich irgendein Unbefugter an der Munition vergreift“. Gefährlich für Mensch und Umwelt sind diese Hinterlassenschaften nämlich in jedem Fall – ganz egal, in welchem Zustand sie sich befinden. Explodiere beispielsweise ein noch scharfer Großsprengkörper, „dann gehen da bis zu 900 Kilo Sprengstoff auf einmal los“, weiß Claus Böttcher von der Nichtregierungsorganisation JPI Oceans. Das könne Wale noch in einem Umkreis von 40 oder mehr Kilometern töten. „Und auf einem Handelsschiff wird die Explosion noch in 1.000 Metern Entfernung spürbar sein.“

Doch das ist rund 80 Jahre nach den Kampfmittelversenkungen nicht das einzige Problem, wie Böttcher betont. „Jetzt rosten die Metallhüllen zunehmend weg und die Chemie ist direkt dem Meerwasser ausgesetzt und löst sich darin auf.“ Die sprengstofftypischen Verbindungen, ein ganzer Cocktail an verschiedenen Chemikalien, wirke sich auf kleine Meereslebewesen und Fische aus. Hinzu kämen – allerdings untergeordnet – giftige Schwermetalle wie Quecksilber, Blei und Arsen. 

Böttcher gehört zu denen, die als erste auf die Spätfolgen der Versenkungen vor 80 Jahren aufmerksam machten und dann Wissenschaftler und Behörden miteinander vernetzten. 2011 legte er, damals noch als Mitarbeiter des Schleswig-Holsteinischen Innenministeriums, zusammen mit anderen Fachleuten einen Bericht vor, der die Dimensionen des Problems veranschaulichte. „Da stand plötzlich jemand vor mir mit ein paar Muscheln, die ich untersuchen sollte“, erinnert sich Edmund Maser an die erste Begegnung mit dem Team um Claus Böttcher.

Dem Professor für Toxikologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gelang es, sprengstofftypische Verbindungen wie TNT im Muschelfleisch nachzuweisen. Es sollte noch einmal geraume Zeit dauern, bis diese Ergebnisse in die politische Debatte sickerten und zu konkreten Maßnahmen wie dem Sofortprogramm der Bundesregierung führten. Inzwischen laufen allein in Masers Forschungsabteilung zehn Projekte.

Krebserregende Stoffe in Fischen und Meeresfrüchten

In einem 2021 mit seiner Kollegin Jennifer Strehse publizierten Aufsatz warnt der Toxikologe, dass die krebserregenden Stoffe beim Verzehr von Fischen und Meeresfrüchten auch in den menschlichen Organismus gelangen können. Noch allerdings fehle es an einer verlässlichen Risikobewertung. Deswegen empfehlen Maser und Strehse weitere Untersuchungen. Dazu gehörten „die Charakterisierung, Quantifizierung und digitale Kartierung von Unterwassermunitionsstandorten; die Bewertung  ihrer toxikologischen Risiken sowohl für die marine Ökosphäre als auch für den menschlichen Verbraucher von Meeresfrüchten; die Entwicklung von Modellierungs- und Prognoseinstrumenten zur Bewertung gegenwärtiger und künftiger Risiken, einschließlich Szenarien im Hinblick auf die globale Erwärmung und schließlich die Entwicklung umweltverträglicher Sanierungsmethoden ohne Gefährdung des menschlichen Lebens“.

Konventionelle Kampfmittel und chemische Kampfstoffe verunreinigen nicht nur deutsche Gewässer. Vor wenigen Wochen erst erforschte Maser mit Kolleginnen und Kollegen das Wrack der „Tirpitz“. Die Reste des größten jemals in Europa fertiggestellten Schlachtschiffs liegen vor der norwegischen Küstenstadt Tromsø. Dort hatten es die Briten 1944 versenkt. „In der Nordsee sind die Munitionsversenkungsgebiete noch nicht so genau definiert wie in der Ostsee“, erklärt Professor Maser. „Deswegen konzentrieren wir uns hier zunächst in erster Linie auf die Erforschung von Schiffswracks.“ Gefördert werden diese Analysen von der Europäischen Union im Rahmen des REMARCO-Programms.

Ein Mitbringsel Masers von seiner Reise nach Nordnorwegen: neue Beutel mit Sediment- und Wasserproben sowie Muscheln aus dem Untergangsgebiet der „Tirpitz“, die er jetzt auf Schadstoffe untersucht. „Erste und vorläufige Ergebnisse weisen darauf hin, dass auch das Wrack der ‚Tirpitz‘ zu einer sogenannten Punktquelle für sprengstofftypische Verbindungen geworden ist“, so Maser. Generell gibt es noch viel zu tun, wie Jens Greinert hervorhebt. Der Professor für Geologie arbeitet für das Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel GEOMAR. Er und sein Team haben den Meeresboden hydroakustisch mit Echoloten kartografiert. Ein Ergebnis: Zumindest der deutsche Teil von Nord- und Ostsee müsse in seiner Gesamtheit als munitionsbelastet angesehen werden – „mit Hotspots in den Versenkungsgebieten“.

Die technische Bergung der Munition ist nur die eine Seite der Medaille, musste Greinert im Lauf der Auseinandersetzung mit dem Thema lernen. Erst im Lauf der Zeit sei so richtig klargeworden, „wen man eigentlich alles fragen muss, um so etwas zu machen, wenn es nicht um eine Noträumung geht“. Dazu gehören laut Greinert allein auf deutscher Seite mehrere Behörden und Ministerien auf Länder- und Bundesebene. In den vergangenen Jahren habe sich aber immerhin herauskristallisiert, dass zum jetzigen Zeitpunkt die Hauptverantwortung beim Bundesumweltministerium liege.

Für das „Sofortprogramm Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“ hat das Bundesumweltministerium 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Bis Ende 2027 soll, nach den Erkundungen und Probebergungen, eine Plattform entwickelt und gebaut werden, mit deren Hilfe die Weltkriegsmunition geborgen und gleich vor Ort auf dem Meer verbrannt werden kann, wie der Geschäftsführer des Projektkoordinators Seascape Wolfgang Sichermann erläutert. „Die Abgase werden dabei gefiltert und gereinigt.“ Mit dem Versenkungsgebiet in der Ostsee vor Boltenhagen habe man es mit einem besonders kniffligen Fall zu tun, erläutert Geophysiker Karsten Stürmer. „Da liegt ein Sammelsurium an Wehrmachtsbeständen, von Handgranaten über Kleinmunition bis hin zu Artilleriegranaten, auf dem Grund“, sagt er. Besonders schwierig werde es, „bei einer Räumung das in den verschiedenen Kampfmitteln enthaltene Treibladungspulver nicht im Meer zu verbreiten, sondern sicher in Transportbehälter zu überführen“.

Alle beteiligten Fachleute wissen: Bei der Bergung von Brandmitteln, Spreng- und Kampfstoffen aus dem Meer drängt die Zeit – und trotzdem braucht es einen langen Atem. „Wenn denn Geld nicht unbedingt das Problem ist, man die Industrie machen lässt und weiter am Ball bleibt, kriegt man nach meiner Meinung die deutschen Ostsee-Gewässer bis Ende 2040 munitionsfrei“, zeigt sich Geologe Greinert überzeugt. Schon aufgrund der Tatsache, dass dort große „Munitionshaufen“ in höchstens 25 Metern Wassertiefe lägen, halte er eine solche Räumung für essenziell, „auch aufgrund der Sicherheitsaspekte“, so der GEOMAR-Experte. „Und das ist machbar.“

Mehr zu Munition im Meer

  • Beitrag auf Arte

    Die Herausforderungen der Bergung von Munition aus dem Meer beleuchtet eine halb-stündige TV-Dokumentation des deutsch-französischen TV-Senders Arte. Der Beitrag mit dem Titel „Mission Munitionsbergung aus dem Meer“ ist online abrufbar.

    Beitrag anschauen
  • Beitrag beim WDR

    Die historischen Hintergründe der Munitionsversenkungen in der Ostsee unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg beleuchtet ein Radiofeature der WDR-Reihe „Zeitzeichen“. Dieser Beitrag ist ebenfalls online abrufbar.

    Beitrag anhören
  • Sonderausstellung in Scharbeutz

    Wie und warum gelangten nach 1945 Granaten und Bomben in die Ostsee? Was findet sich davon heute noch auf dem Meeresgrund? Und wie entging die Hansestadt Lübeck, heute Weltkulturerbe, nach dem Zweiten Weltkrieg einer Katastrophe? Diese Fragen beantwortet noch bis zum 13. Dezember 2025 die sehenswerte Sonderausstellung „Munition im Meer – das explosive Erbe“ im Museum für Regionalgeschichte der Gemeinde Scharbeutz und Umgebung (Lindenstraße 23, 23684 Scharbeutz-Pönitz). Öffnungszeiten: Dienstag 15 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag 14 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei, um eine Spende wird gebeten.

    Weitere Informationen

Interview mit Prof. Edmund Maser

Prof. Edmund Maser ist Direktor des Instituts für Toxikologie und Pharmakologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Foto: Jürgen Haacks – CAU

Forschungen zu versenkter Munition im Meer: „Die ‚Tirpitz‘ ist ein sehr interessantes Wrack“

Prof. Edmund Maser gehört zu den Spezialisten, die seit Jahren die Folgen der Munitionsversenkungen in Ost- und Nordsee wissenschaftlich untersuchen. Kürzlich erst ist der Direktor des Instituts für Toxikologie und Pharmakologie an der Universität Kiel nach Norwegen gereist. Dort hat er Analysen rund um das Wrack der „Tirpitz“ durchgeführt. Das riesige Schlachtschiff der deutschen Kriegsmarine wurde 1944 von den Briten vor der Hafenstadt Tromsø versenkt. Im Interview mit dem VAA Magazin berichtet Maser unter anderem, was er sich von diesen Untersuchungen erhofft.

VAA Magazin: Herr Prof. Maser, wie gehen Sie bei Ihren Untersuchungen zu den Schadstoffbelastungen durch Weltkriegsmunition bei Meereslebewesen vor

Maser: Wir verfolgen hier mehrere Ansätze: Ein erster Ansatz sind Untersuchungen an frei lebenden Muscheln und Fischen aus Verdachtsgebieten, etwa aus Munitionsversenkungsgebieten oder Schiffswracks. Die Muscheln werden von Tauchern eingesammelt und die Fische mit Angelruten oder Netzen gefangen. Die Tiere werden sofort eingefroren und in das Toxikologische Institut nach Kiel gebracht. Hier werden sie seziert und die verschiedenen Gewebe nach Extraktion separat auf den Gehalt an sprengstofftypischen Verbindungen – STV – untersucht. Dazu benutzen wir hochauflösende Gas- und Flüssigkeitschromatografische Trennverfahren, die an eine Massenspektrometrische Analyse gekoppelt sind. Hier konnten wir zum Beispiel in Fischen, die am Wrack der „John Mahn“ in der Belgischen Nordsee leben, sowie an Plattfischen, die in der Nähe der Ostfriesischen Inseln leben, zeigen, dass die STV sogar in der Muskulatur, also im essbaren Teil der Fische, im Filet, auftauchen. Allerdings sind die Konzentrationen von TNT sehr gering und nur in Spuren nachweisbar.

In einem zweiten Ansatz haben wir Muscheln untersucht, die seit 1985 von der Umweltprobenbank jährlich an bestimmten Orten gesammelt, tiefgefroren und für spätere Analysen aufbewahrt werden. In diesen Muscheln haben wir gesehen, dass die STV erstmals in Muscheln ab dem Jahr 2002 auftauchen und in ihrer Konzentration langsam, aber über die Jahre stetig ansteigen. Auch hier sind die STV-Konzentrationen nur in Spuren nachweisbar.

Als drittes führen wir ein Muschelmonitoring durch. Hier werden unbelastete Muscheln aus Muschelfarmen gezielt an die Verdachtsflächen, also in Munitionsversenkungsgebieten oder Schiffswracks, ausgebracht. Dies geschieht wieder mithilfe von Tauchern, die die Muscheln in Netzen oder Käfigen direkt an die Munition bringen. Nach ein paar Wochen werden die Muscheln geborgen und wieder bei uns in der Toxikologie analysiert. Miesmuscheln können dazu besonders gut als Bioindikatoren eingesetzt werden. Als permanente und gleichzeitig robuste Filtrierer nehmen sie aus dem umgebenden Wasser nicht nur Nähr-, sondern auch Schadstoffe auf und reichern diese in ihrem Gewebe an. Auf diese Weise dienen Muscheln bereits in vielen Monitoring-Programmen als Bioindikatoren zur Überwachung der Meeresumwelt auf mögliche Schadstoffbelastungen. Hier haben wir zeigen können, dass Miesmuscheln, die an freiliegenden Schießwollebrocken siedeln, im Vergleich zu Muscheln an rostenden Ankertauminen circa 50 mal mehr STV in ihrem Gewebe einlagern. Auch dies ist ein Hinweis, dass wir mit der Munitionsräumung nicht so lange warten sollten, bis alle Munitionskörper verrostet sind. 

Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich von Ihrer jüngsten Forschungsreise ans Wrack der „Tirpitz“?

Die „Tirpitz“ ist ein sehr interessantes Wrack, weil sie so überdimensioniert gebaut war und mit einer sehr großen Menge an Munition versenkt wurde. Wir sind bei der Planung davon ausgegangen, dass wir hier sehr deutliche Zeichen einer Umweltkontamination mit STV im umliegenden Sediment, Wasser und den gesammelten Wildmuscheln finden werden. Ganz aktuell haben wir in den ersten durchgeführten Sedimentanalysen tatsächlich nicht nur deutliche Mengen an STV aus der Munition, sondern auch noch Schadstoffe – polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe – aus den Treibstoffen – Schweröle – der Tirpitz gefunden.

Was sagen Sie denen, die sich fragen, ob Sie besser auf den Verzehr von Fischen und Meeresfrüchten verzichten sollten?

Im Moment besteht keinerlei Gefahr für den Menschen beim Verzehr von Fischen. Auch wenn diese in Munitionsversenkungsgebieten oder in der Nähe von Schiffswracks gefangen wurden. Die Konzentrationen der STV im Filet der Fische sind einfach zu gering. Das betrifft auch die Muscheln. Allerdings gibt es hier die Ausnahme, dass Muscheln, die direkt an oder auf den Schießwollebrocken leben, besser nicht gegessen werden sollten, denn in diesen Muscheln sind die STV-Konzentrationen deutlich erhöht. Aber diese Situation kann sich in ein paar Jahrzehnten ändern, weil die Munitionskörper stetig weiter rosten. Zusammen mit dem Klimawandel beziehungsweise der Erwärmung der Meere könnten sich also die STV-Konzentrationen im Wasser weiter erhöhen. Deshalb müssen permanente Monitoringverfahren etabliert werden, etwa mit Miesmuscheln an den kritischen Stellen, um uns rechtzeitig vor möglichen Gefahren zu warnen.

Zahlen und Fakten

Sandstrand an der Ostseeküste von oben
Foto: kamisoka – iStock

Mehr als 1,6 Millionen
Tonnen Weltkriegsmunition bedecken den Boden von Nord- und Ostsee. Allein in der deutschen Ostsee liegen Schätzungen zufolge rund 300.000 Tonnen Altmunition. Darunter befindet sich konventionelle Munition wie Hülsen, vor allem aber chemische Kampfstoffe, deren Behältnisse im rauen Salzwasser rosten und sich nun langsam auflösen. Die Kriegsmunition ist hier auf unterschiedlichsten Wegen gelandet: durch Verminung, Seekämpfe oder Schiffswracks. Die größte Menge stamme aus gezielten Versenkungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges, so schreibt es das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel als eine der weltweit führenden Einrichtungen auf dem Gebiet der Meeresforschung.

80 Jahre später
stellt diese große Menge an Altmunition nicht nur eine Gefahr für die marine Umwelt, sondern auch für den Menschen dar: Die giftigen Substanzen wie TNT, Quecksilber oder Blei als Schadstoffe werden langsam freigesetzt und sind im Wasser und in Meeresorganismen nachweisbar. Aus Altmunition in der südwestlichen Ostsee sind bereits rund 3.000 Kilogramm gelöste giftige Chemikalien freigesetzt worden, wie eine neue GEOMAR-Studie zeigt. Wasserproben aus den Jahren 2017 und 2018 ergaben Substanzen in fast allen Fällen, insbesondere in der Kieler und der Lübecker Bucht. Die Werte lägen noch unterhalb der Schwelle für ein Gesundheitsrisiko, sie unterstreichen jedoch den Handlungsbedarf bei der Munitionsräumung, um die langfristigen Risiken zu minimieren, so das Forschungszentrum GEOMAR. Ohne Maßnahmen zur Bergung ist mit einem Anstieg der Kontamination zu rechnen, da die Metallhüllen durch Korrosion zunehmend zerfallen. „Mit den Kriegsaltlasten kann zumindest eine Quelle für die Kontamination des Meeres dauerhaft beseitigt werden“, sagt Geochemiker Aaron Beck vom GEOMAR.

Um etwa 0,5
Grad Celsius hat sich der Weltozean in den vergangenen 30 Jahren erwärmt – Messreihen in der Ostsee zeigen bereits eine Erwärmung um etwa 1,5 Grad. In der Ostsee sind schon jetzt viele Veränderungen zu beobachten, die anderen Meeresregionen noch bevorstehen. In der Tiefe herrscht Sauerstoffmangel, einige Zonen gelten bereits als sauerstofffrei. Und der pH-Wert des Wassers erreicht regelmäßig Bereiche, die im Zuge der Ozeanversauerung für tiefere Meere erst im nächsten Jahrhundert erwartet werden. Hinzukommen Überdüngung und Verschmutzung. Forschende betrachten das Brackwassermeer daher auch als „Zeitmaschine“. Gleichzeitig ist die Ostsee eines der am besten erforschten Meere. Die Entwicklung wichtiger Umweltparameter, marinem Leben und Fischbeständen werden seit Jahrzehnten erfasst.

In zehn bis zu 6.000 Meter
Tiefe kann ABYSS – Spitzname Tiffy – als autonomes Wasserfahrzeug (AUV) vom Typ REMUS 6.000 der Firma Hydroid seine Arbeit unter Wasser verrichten. Sein Name bezieht sich auf das sogenannte Abyssal, ein Begriff, der den Meeresboden zwischen 2.000 und 6.000 Metern Tiefe umfasst. Dieser Bereich der Tiefsee ist das Haupteinsatzgebiet für ABYSS, das auf den GEOMAR-Forschungsschiffen zur Meeresforschung eingesetzt wird. Mit Unterstützung von verschiedenen Echoloten kartiert es den Meeresboden und sammelt mithilfe von Sensoren die physikalischen Parameter aus der Wassersäule. Das Gerät wird mit Lithium-Batterien betrieben, mit denen es bis zu 22 Stunden tauchen und messen kann.

Im Jahr 2022
startete im GEOMAR der Forschungsverbund CONMAR (CONcepts for conventional MArine Munition Remediation) im Rahmen der Forschungsmission „Schutz und nachhaltige Nutzung mariner Räume“ der Deutschen Allianz Meeresforschung (DAM) zur Sanierung konventioneller Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee. Das Ziel: eine akustische, visuelle und chemische Kartierung zur Erstellung von Konzepten für die Beseitigung mariner konventioneller Munition und neues Wissen über Risiken, Strategien und Handlungsansätze für den Umgang mit Munitionsaltlasten. CONMAR soll bestehende und neue Datensätze zu historischer Marinemunition integrieren, das Fachwissen deutscher meereswissenschaftlicher Organisationen, staatlicher Stellen und des privaten Sektors bündeln, das wissenschaftliche Verständnis der Rolle, des Verbleibs und der Auswirkungen von Marinemunition in der Umwelt verbessern und in Abstimmung mit Interessengruppen politische Lösungen für Überwachungs- und Sanierungsmaßnahmen zu entwickeln. Das Projekt wird bis Ende 2027 mit 4,8 Million Euro Fördergeldern durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt.

In aktuell 17
Expeditionen pro Jahr – an insgesamt 473 Tagen – erforscht das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel den globalen Ozean vom Meeresboden bis in die Atmosphäre. Es bildet ein einzigartiges Spektrum von physikalischen, chemischen, biologischen und geologischen Prozessen im Ozean ab und trägt so dazu bei, das Ozeansystem zu verstehen und die Entwicklung nachhaltiger Lösungen für drängende gesellschaftliche Probleme zu ermöglichen. Im Rahmen der Programmorientierten Förderung der Helmholtz-Gemeinschaft ist das GEOMAR Teil des gemeinsamen Forschungsprogramms „Changing Earth – Sustaining our Future“ des Helmholtz-Forschungsbereichs Erde und Umwelt.