Eiskalte Progression
Fast 14 Milliarden Euro. Die nahezu täglichen Meldungen über immer neue Milliardenlöcher in europäischen Staatshaushalten drohen Summen dieser Größenordnung zu relativieren. Aber wenn am Ende dieses Jahres fast 14 Milliarden Euro mehr Einnahmen aus der Lohn- und Einkommensteuer in den Bilanzen von Bund und Ländern stehen als im Vorjahr, ist das ein sehr sattes Plus von acht Prozent. Der Arbeitskreis Steuerschätzung hat diese Zahlen Ende Oktober ermittelt. Beim Gesamtsteueraufkommen gehen die Steuerschätzer von rund fünf Prozent Mehreinnahmen aus. Schon dieser einfache Vergleich zeigt: Einen erheblichen Teil der zusätzlichen Lohnsteuer verdankt der Staat nicht der guten konjunkturellen Entwicklung, sondern der „kalten Progression“: Löhne und Gehälter werden der Inflationsentwicklung angepasst, die Einkommensteuersätze nicht. Im Ergebnis führt der progressive Einkommensteuertarif zu sprudelnden Steuereinnahmen und sinkenden Realeinkommen.
Fast ein Jahr ist verstrichen, seit die Bundesregierung beschlossen hat, diesen heimlichen Steuererhöhungen durch eine einmalige Anpassung des Tarifverlaufs wenigstens vorläufig entgegenzuwirken. Seit einem halben Jahr hängt dieser Vorschlag im Bundesrat fest. Die Länder mit Regierungsbeteiligung von SPD, Grünen und Linken wollen nicht zustimmen, weil sie die Maßnahme für sozial unausgewogen halten und eine „Steuerentlastung auf Pump“ ablehnen. Sie fordern zur Gegenfinanzierung eine Anhebung des Spitzensteuersatzes.
In der Sache ist die Blockadehaltung der Länder schon deshalb fragwürdig, weil kleine und mittlere Einkommen von der kalten Progression überproportional betroffen sind. Aber auch der Ruf nach einem höheren Spitzensteuersatz geht am Kern des Problems vorbei. Es geht hier nicht um eine politisch gestaltende Änderung am grundsätzlichen Steuersystem, deren Verteilung es auszutarieren gilt. Die kalte Progression ist ein Mechanismus, der das Gefüge der deutschen Lohnbesteuerung immer wieder verschiebt und es so von der dahinterstehenden politischen Entscheidung über eine gerechte Besteuerung entfernt.
Wer dem entgegenhält, eine Korrektur dieses Mechanismus sei nicht finanzierbar, will lediglich die Einnahmebasis für Ausgaben sichern, die tatsächlich nicht finanzierbar sind. Keine Frage: Die Haushaltskonsolidierung muss gerade angesichts der andauernden Eurokrise zügig vorangetrieben werden. Sie darf aber nicht durch verdeckte Steuererhöhungen zulasten der Arbeitnehmer finanziert werden. Das gilt umso mehr, weil die expansive Geldpolitik zur Bekämpfung der Staatsschuldenkrise in Europa mittelfristig deutlich höhere Inflationsraten zur Folge haben könnte, als wir sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Wenn folgerichtig die Löhne und Gehälter ebenfalls stärker steigen, droht aus der kalten sehr schnell eine eiskalte Progression zu werden.
Deshalb ist die von der Bundesregierung ebenfalls geplante Überprüfung der Progressionseffekte im Zwei-Jahres-Rhythmus zwar ein Schritt in die richtige Richtung, der jedoch nicht ausreicht. Die VAA-Delegierten haben bereits auf ihrer Tagung im Frühjahr 2008 eine automatische und regelmäßige Anpassung des Steuertarifs gefordert. Wer ein ehrliches und gerechtes Steuersystem will, kommt an diesem Schritt nicht vorbei. Andere Länder mit progressiven Einkommenssteuertarifen machen es vor – zum Beispiel die Schweiz. Dort ist der periodische Ausgleich der kalten Progression gesetzlich verankert.
Wenn die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss über den Abbau der kalten Progression Ende November fortgesetzt werden, muss endlich Schluss sein mit der Parteipolitik auf dem Rücken der Steuerzahler. Wer höhere Steuern will, soll sich dazu klar bekennen – und nicht auf schleichende Mechanismen setzen.