Stress: Wie viel ist zu viel?
Die Urlaubszeit geht langsam zu Ende und die Betriebsamkeit in Büros, Laboren und Produktionshallen nimmt wieder zu. Wenn sie denn überhaupt jemals abgenommen hat. Denn längst macht sich die kontinuierliche Arbeitsverdichtung der letzten Jahrzehnte bemerkbar, vom berühmten Sommerloch ist kaum noch etwas zu spüren.
Keine Frage: Bei der beruflichen Tätigkeit gefordert zu werden und in einem gewissen Umfang Stress zu erleben, gehört zum Arbeitsalltag der meisten Menschen, bei vielen Führungskräften sogar zum beruflichen Selbstverständnis. Allerdings sehen sich gerade die Führungskräfte im mittleren Management stetig wachsenden Anforderungen gegenüber, die sich häufig in überlangen Arbeitszeiten und Konflikten zwischen Job und Freizeit niederschlagen – also einer Störung der viel zitierten Work-Life-Balance.
Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage, die der VAA in Kooperation mit Professor Jürgen Deller von der Leuphana Universität Lüneburg durchgeführt hat. Dabei gaben mehr als 40 Prozent der befragten Chemie-Führungskräfte an, ihre Arbeit entziehe ihnen regelmäßig so viel Zeit und Energie, dass dies negative Auswirkungen auf ihr Privatleben habe. In einer weiteren Umfrage unter den Mitgliedern des VAA konnte das Team um Professor Wolfgang Appel von der Hochschule für Wirtschaft und Technik des Saarlandes zudem belegen, dass 14 Prozent der Chemie-Führungskräfte jeden Tag oder zumindest mehrmals pro Woche daran denken, ihren Beruf aufzugeben. Weiteren 13 Prozent kommt dieser Gedanke zumindest einige Male im Monat.
Das sind bedenkliche Zahlen, die sich auch in einem größeren Zusammenhang widerspiegeln: Im Jahr 2012 fielen durch psychische Probleme in Deutschland mehr als 61 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage an. Im Jahr 2001 lag die Zahl psychisch bedingter Ausfalltage noch bei 34 Millionen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine aktuelle Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Als Hauptursachen für diese dramatische Entwicklung hat das Bundesarbeitsministerium die Digitalisierung der Arbeitswelt und den steigenden Wettbewerbsdruck durch die Globalisierung ausgemacht. Faktoren also, die gerade Führungskräfte in der Regel besonders deutlich zu spüren bekommen.
Höchste Zeit zum Gegensteuern also. Denn auch wenn Maßnahmen wie die dieser Tage erneut diskutierte Anti-Stress-Verordnung durchaus methodische Probleme mit sich bringen – etwa die Tatsache, dass die Ursachen für Stress natürlich auch außerhalb der Arbeit liegen können: Eine lösungsorientierte Diskussion über diesen Aspekt des Arbeitsschutzes ist längst überfällig. Und zwar nicht nur im Sinne der betroffenen Arbeitnehmer, sondern auch im Hinblick auf die vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung dringend gebotene Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Fach- und Führungskräfte. Daran müssen auch die Unternehmen höchstes Interesse haben.