Führungskräfte fehlen
Die Chemische Industrie ist als forschungsintensive Branche auf den Nachwuchs an höher gebildeten Arbeitskräften angewiesen. Vor allem Spezialisten mit einem Abschluss in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik (MINT) sind rar gesät. Aus dem aktuellen MINT-Trendreport des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) geht hervor, dass der MINT-Anteil unter den Akademikern in der Chemischen Industrie derzeit bei 60,9 Prozent liegt und damit fast doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt über alle Branchen (32,5 Prozent). Laut MINT-Trendreport wird der jährliche Ersatzbedarf an MINT-Fachkräften durch die demografische Entwicklung in den nächsten Jahren von derzeit 44.000 auf 52.000 MINT-Qualifizierte jährlich ansteigen. Diese Nachwuchslücken gefährden latent das Wachstum. Wer soll forschen, erfinden und produzieren, wenn die Köpfe fehlen?
Die Bundesregierung tritt in ihrem Fachkräfte-Konzept für die Ausschöpfung der vorhandenen Potentiale und mehr Zuwanderung ein. Der Vorstand des VAA hat mit einer Stellungnahme seine Position zum Führungs- und Fachkräftemangel gegenüber der Politik verdeutlicht. Er mahnt zur Konsistenz: Die Maßnahmen der Bildungs-, Gesellschafts- und Zuwanderungspolitik müssen zwingend mit der Forschungspolitik abgestimmt werden. Es ist elementar, sich heute – und nicht erst morgen – um zukunftsträchtige Investitionen in Forschung und Entwicklung zu kümmern. Wirtschaft und Staat sind in der Pflicht.
Die besten Köpfe kommen nämlich nur, wenn sie willkommen sind und willens, zu bleiben. Und: Wer heute nicht kommt, kommt morgen zumeist nimmer mehr! Deutschland wird als Einwanderungsland attraktiv sein, wenn seine Wirtschaft die Aussicht bietet, weiterhin Spitzenprodukte hervorzubringen. Ohne Spitzenforschung und ohne Spitzenforscher und –forscherinnen geht das nicht.
Das Beispiel des immer mehr ins Taumeln geratenden EU-Gründungsmitglieds Italien zeigt: Allzu rasch rostet, wer rastet. Wo früher noch die Spitzenprodukte im Textildesign oder auch im Automobilbau zu finden waren, dominiert heute der Sektor des kleineren und mittleren produzierenden Gewerbes. Die italienische Wirtschaft verfügt zusehends weniger über den nötigen Kapitalstock, aber auch das nötige Know-How, um in ausreichendem Maß Wertschöpfungsintensität und Wachstumsdynamik zu generieren. So frisst sich nagend die Sorge fest, Italien könnte womöglich zum nächsten Opfer der Spekulation auf den Anleihemärkten werden.
Aber die jetzige Spekulation gegen die Euroländer ist Symptom. Sie ist nicht Ursache der Krise sondern Ausdruck derselben. Schlechte Ratings sind nicht Krisenherde, sondern – schlimm genug – Krisenverstärker. Die Ursachen liegen in hoher Staatsverschuldung, Wachstumsschwäche und – das ist auch festzuhalten – in einem Webfehler der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Im Stabilitäts- und Wachstumspakt wurden die Finanzmärkte als apolitisches Disziplinierungsinstrument eingebaut: Dadurch werden aber nationale Regierungen auf dem Rentenmarkt auf eine Stufe mit Provinzregierungen oder Großunternehmen gestellt. Man könne mit ihnen, wie sich Altkanzler Helmut Schmidt einst ausdrückte, auf dem Parkett „Fußball spielen“. Die Spekulation ist überhaupt erst möglich, da die EZB keine Staatsanleihen aufnehmen darf.
Ernst zu nehmende Stimmen fordern daher die Schaffung eines geordneten Staatsinsolvenzverfahrens zugleich mit einer Europäischen Finanzagentur: Dieser Agentur müsste es gestattet sein, Eurobonds mit gesamtschuldnerischer Haftung aller Mitgliedsländer, aber auch gerechter Verteilung der Anleiheerlöse unter allen Mitgliedern auszugeben. Dann könnte es gelingen, den Kapitalbedarf der Euromitgliedsländer zu decken, ohne gegen die Bail-Out-Klausel zu verstoßen.
Dieser Ansatz ist strikt zu unterscheiden von der Blue Bond-Idee, bei der die aus der Anleiheplatzierung erlösten Einnahmen eben nur dem emittierenden Nationalstaat zu Gute kommen, der gleichwohl die anderen Mitgliedsländer mit in die Haftung nimmt. Hielte Italien dem Ansturm nicht stand, dann zerrisse unweigerlich die Illusion der Rettungsschirme und Europa stünde vor der Schicksalsfrage.
Es wird dieser Tage immer schwerer zu entscheiden, ob man die sich damit aufzwingende Chance schweren Herzens und verwegenen Mutes mehr begrüßen sollte, als sich weiterhin klamm unter die vermeintliche Sicherheit längst löchrig gewordener Rettungsschirme zu ducken?