Atomausstieg: Am Netz hängt alles
Vom Jahreszahlen-Karussell zum Atomausstieg und dem Jonglieren mit Strompreisen in den letzten Monaten wurde Wirtschaftsvertretern und Verbrauchern beinahe schwindlig. Der Zickzackkurs zur Energiewende und der jüngste, in nur acht Tagen vollbrachte Kabinettsbeschluss zum Atomausstieg bis 2022 zeugen von erheblicher Sprunghaftigkeit. Es ist zwar verständlich, dass sich nach der Katastrophe von Fukushima die Wahrnehmung der Kernenergie in der Gesellschaft grundlegend verändert hat. Doch darf man keineswegs vergessen, dass es sich um Bewertungen, nicht um Fakten handelt. Die Risiken sind dieselben geblieben, bloß werden sie heute anders interpretiert.
Getrieben von den Wahlerfolgen der Grünen propagiert Kanzlerin Angela Merkel momentan die Energiewende als alternativloses Zukunftsmodell. Offiziell herrscht Aufbruchstimmung. Genau wie vor rund acht Monaten. Damals wurde das den Energiekonzernen zugesprochene AKW-Laufzeitplus bis 2040 als historisches Ereignis gefeiert. Heute sind sich Regierung und Opposition einig im grundsätzlichen Kurs, um Detailfragen wird weiter gestritten. Auch innerhalb der Koalition droht Ungemach: Nach Fukushima an vorderster Front gegen Atomkraft, äußert FDP-Generalsekretär Christian Lindner jetzt seine Zweifel am eiligen Atomausstieg. Neben Lindner warnen der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Deutsche Industriehandelskammer (DIHK) vor einem Turbo-Ausstieg aus der Kernenergie: Der finale Beschluss der Energiewende biete zwar neue Chancen für innovative Energiekonzepte, gefährde aber die Versorgungssicherheit und damit die Verlässlichkeit Deutschlands als Industrieland. Außerdem befürchtet der BDI einen saftigen Anstieg der Strompreise.
Die Sorgen sind durchaus berechtigt, zumal es zu dieser Problematik mittlerweile ein paar Dutzend Studien gibt, die je nach Ansprüchen und Erwartungen sehr stark divergieren. Laut jüngsten Berechnungen der Deutschen Energieagentur (dena) gäbe es eine Erhöhung des Strompreises um 4 bis 5 Cent pro Kilowattstunde. Für Privathaushalte bedeute dies einen Anstieg der Stromkosten um 20 Prozent. Die Industrie würde der Atomausstieg jährlich zwei Milliarden Euro kosten, prophezeit das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Allein bei der Chemieindustrie wären es laut IW rund 340 Millionen Euro.
Für die Energieversorgung ohne Atomstrom ist eine komplette Umgestaltung und ein Ausbau des gesamten deutschen Energiesystems unerlässlich.
Nach einer dena-Studie erfordert der Energiewandel einen Netzausbau von 4.500 Kilometern, auf der Mittel- und Niederspannungsebene nach Berechnungen des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) von 200.000 bis 400.000 Kilometern. Bis 2020 sollen 15 bis 20 neuer Erdgas- oder effizienter Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von insgesamt 10.000 bis 12.000 MW gebaut werden, um möglichen Stromschwankungen vorzubeugen. Zusätzliche Speichertechnologien sind unentbehrlich, deren Kosten noch nicht abschätzbar. Daher gilt: Am Netz hängt alles! Damit der Atomausstieg nicht zur Abwanderung der Industrie führt, muss der Um- und Ausbau der Stromnetze sofort angepackt werden. Denn angesichts des enormen Bedarfs an neuen Leitungen bleibt nur wenig Zeit. Für energieintensive Industrien ist es existentiell, Strom zu langfristig kalkulierbaren Preisen zu beziehen. Ohne Investitions- und Planungssicherheit für Unternehmen steht der Chemiestandort auf dem Spiel.
Die Energiewende wird kein leichtes Manöver sein. Denn die Stromerzeugung wird von nun an in unmittelbarer Nähe der Wohngebiete stattfinden und das Landschaftsbild nachhaltig prägen. Widerstände in der Bevölkerung sind vorprogrammiert. Schließlich geht es nicht nur um das Aufstellen von Windrädern und Photovoltaikanlagen. Es geht darum, das gesamte Energiesystem zu optimieren. Deswegen ist es wichtig, Bevölkerung und Industrie auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten, indem die politischen Entscheidungsträger aufrichtig und unumkehrbar auf den Atomausstieg zugehen, einen ehrlichen Dialog mit allen Akteuren aus Gesellschaft und Wirtschaft anstreben und die Tragweite des Wandels realistisch benennen.
Nun steht der grobe Fahrplan für den Einstieg in das neue Energiezeitalter. Jetzt gilt es, den Netzausbau schnell umzusetzen und verlässliche soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, so dass sich die künftig benötigten Kraftanstrengungen für die Energiewende auch lohnen und langfristig auszahlen.