Interview mit Stefan Ladeburg
Altersfreizeit: Anspruch gilt auch für ATs und Leitende
In den 1980er Jahren haben die Tarifparteien der chemisch-pharmazeutischen Industrie die tarifliche Altersfreizeit als Instrument zur gesundheitlichen Entlastung älterer Beschäftigter entwickelt. Gerade in der modernen Arbeitswelt mit flexiblen Arbeitszeiten erfreut sich dieses Modell einer immer größeren Beliebtheit. Über neue Entwicklungen sowie die Relevanz des Themas für außertarifliche und leitende Angestellte klärt VAA-Jurist Stefan Ladeburg im Interview mit dem VAA Magazin auf.
VAA Magazin: Können Sie bitte kurz erklären, was es mit der tariflichen Altersfreizeit auf sich hat?
Ladeburg: Darin geregelt wurde zunächst, dass Beschäftigte, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, eine zweieinhalbstündige Altersfreizeit pro Woche erhalten. Ferner sollten Altersfreizeiten vorrangig am Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag gewährt werden. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass Altersfreizeiten aus Gründen des Arbeitsablaufs zu freien Tagen zusammengefasst werden können. Von dieser Möglichkeit wurde in einer Vielzahl von Unternehmen durch Betriebsvereinbarungen Gebrauch gemacht, sodass nicht mehr eine stündliche wöchentliche Reduzierung vorgenommen wurde, sondern eine Zusammenfassung der wöchentlichen Reduzierung zu freien Tagen.
Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Arbeitszeit um bis zu zweieinhalb Stunden unter der wöchentlichen Arbeitszeit von 37 Stunden liegt, wird die Altersfreizeit anteilig gewährt. Für Beschäftigte, deren regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit mehr als zweieinhalb Stunden unter der wöchentlichen Arbeitszeit von 37 Stunden liegt, sollte hingegen kein Anspruch auf Altersfreizeit bestehen.
Warum?
Grund hierfür war der Gedanke der Tarifvertragsparteien, dass es sich bei der Altersfreizeit um eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen handelt. Eine solche Reduzierung sahen die Tarifvertragsparteien damals für Beschäftigte, deren wöchentliche Arbeitszeit sowieso schon drastisch reduziert war, als entbehrlich an.
Des Weiteren wurde tarifvertraglich geregelt, dass die Altersfreizeit dann entfällt, wenn die Beschäftigten am gleichen Tag aus einem anderen Grund nicht arbeiten, insbesondere wegen Urlaub, Krankheit, eines Feiertages oder der Freistellung von der Arbeit. Eine Nachgewährung der Altersfreizeit war hier ausgeschlossen.
Gelten die Regelungen zur Altersfreizeit eigentlich auch für außertarifliche und leitende Angestellte?
Der VAA-Tarifvertrag für naturwissenschaftlich gebildete akademische Angestellte sieht in § 5 Absatz 4 vor, dass Angestellte, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, unter Berücksichtigung der betrieblichen Erfordernisse bezahlte Altersfreizeit in Anspruch nehmen können. Bei der Gewährung sind vom Arbeitgeber die allgemeinen Regelungen im Betrieb sinngemäß unter Berücksichtigung der Aufgabenstellung der Angestellten anzuwenden. Insoweit ist festzustellen, dass sowohl außertarifliche als auch leitende Angestellte einen Anspruch auf Altersfreizeit haben. Bezüglich der Leitenden gibt es eine gemeinsame Abstimmung zwischen BAVC und VAA, dass diese vom Anspruch auf Altersfreizeit nicht ausgeschlossen werden können.
Gibt es neue Entwicklungen zum Thema Altersfreizeit?
Nachdem über mehrere Jahrzehnte fast nichts zu dem Thema passierte, ergingen in den letzten Jahren einige spektakuläre Urteile vonseiten der Landesarbeitsgerichte und des Bundesarbeitsgerichts, welche die Tarifvertragsparteien im Ergebnis zu einer tariflichen Neuregelung der Altersfreizeit zwangen. So hat etwa das BAG nach einem klagestattgebenden, ersten Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg und einem klageabweisenden Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg bezüglich des Falles einer Arbeitnehmerin in Teilzeit mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von 30 Stunden entschieden, dass die Regelung, wonach Beschäftigte mit einer Arbeitszeit von zweieinhalb Stunden unter der durchschnittlichen, wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden liegen, keinen Anspruch auf Altersfreizeit haben, eine Diskriminierung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer darstelle, die mit dem Gesetz nicht vereinbar sei. Das BAG hat der Arbeitnehmerin entsprechend dem Umfang der Teilzeit einen Anspruch auf zwei Stunden Altersfreizeit wöchentlich zugesprochen.
Wie haben die obersten Arbeitsrichter genau argumentiert?
Dem Bundesarbeitsgericht zufolge sei die Nichtgewährung von Altersfreizeit für Beschäftigte mit einer Arbeitszeit von unter 35 Wochenstunden nicht sachlich gerechtfertigt, da es keinen allgemeinen Erfahrungssatz gebe, der die Annahme rechtfertigen könne, dass bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden für alle Arbeitnehmer ab Vollendung des 57. Lebensjahres eine qualitative Belastung bestünde, die bei Teilzeitbeschäftigten derselben Altersgruppe nicht in gleichem Maße auftritt. Darüber hinaus existiere kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass die mit der Erbringung der Arbeitsleistung einhergehende Belastung erst dann ansteigt, wenn der Schwellenwert von 35 Wochenstunden überschritten sei.
Am 22. Oktober 2019 bestätigte das BAG diese Rechtsprechung in einem gleichgelagerten Rechtsstreit. Zuvor hatte das Arbeitsgericht Solingen diese Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf gab jedoch anschließend der Klage statt, wonach der Arbeitgeber Berufung vor dem Bundesarbeitsgericht einlegte.
Gab es noch weitere Urteile zum Thema Altersfreizeit?
In einer noch frischen Entscheidung vom 25. Januar 2022 hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass ein Arbeitnehmer, der Urlaub für den Montag und Dienstag einer Woche sowie für den Donnerstag und Freitag der gleichen Woche beantragt hatte, aber nicht für den Mittwoch, an dem sein bereits seit Langem feststehender, regelmäßiger Altersfreizeittag lag, keinen Urlaub für diesen Tag beantragen müsse. Der Arbeitgeber hatte argumentiert, dass Altersfreizeittage nicht im Zusammenhang mit Urlaubswochen genommen werden können. Er hatte dem Arbeitnehmer daher für die Woche fünf Tage vom Urlaubskonto abgezogen. Der Arbeitnehmer trug dagegen vor, dass er für die betreffende Woche lediglich Urlaub für Montag und Dienstag sowie Donnerstag und Freitag beantragt hatte, da am Mittwoch sein seit langer Zeit vorher festgesetzter Altersfreizeittag angefallen sei und er an diesem Tag bereits von der Arbeitsleistung freigestellt gewesen sei, sodass eine weitere Freistellung vom Erholungsurlaub nicht möglich gewesen sei.
Das Unternehmen hatte sich in seiner Argumentation auch auf den Manteltarifvertrag der IG BCE bezogen, demzufolge Altersfreizeit insbesondere wegen Urlaub des Arbeitnehmers entfalle. Das Bundesarbeitsgericht erklärte hierzu, dass der Kläger für den Mittwoch ja gerade eben keinen Urlaub beantragt hätte und damit auch kein wirksamer Urlaub für diesen Tag erteilt werden konnte. Die tarifvertragliche Regelung, dass der Anspruch auf Altersfreizeit während des Urlaubs ausfällt, könne daher keine Anwendung finden.
Wie haben die Tarifvertragsparteien auf diese BAG-Urteile?
Zunächst ist festzustellen, dass gegen eine der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bezüglich der Diskriminierung von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern noch eine Verfassungsbeschwerde durch den Arbeitgeber beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist. Daher haben die Tarifvertragsparteien im Rahmen der Tarifrunde 2022 vereinbart, dass Teilzeitbeschäftigte, die nach den Urteilen des Bundesarbeitsgerichts nun Altersfreizeiten haben, diese anteilig erhalten. Dies gelte auch für bereits geltend gemachte Ansprüche. Die Lage der Altersfreizeiten sei hierbei betrieblich zu regeln.
Laut BAG könne der Arbeitgeber diese Altersfreizeit bis zur abschließenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde dem jeweiligen Arbeitszeitkonto der Teilzeitbeschäftigten vorläufig gutschreiben. Abhängig vom Ausgang der Verfassungsbeschwerde werden die angesammelten Altersfreizeiten entweder nachträglich gewährt oder das nicht gerechtfertigte Arbeitszeitguthaben wird wieder in Abzug gebracht.
Darüber hinaus wurde vereinbart, dass die Betriebsparteien eine einvernehmliche Regelung treffen, in welcher Form die gutgeschriebenen oder rechtswirksam geltend gemachten Altersfreizeiten nachträglich gewährt werden. Dabei ist eine Gewährung in natura, eine Auszahlung oder die Einbringung der Altersfreizeiten in ein Langzeitkonto möglich.
Und wie sieht es beim Urlaub aus?
Bezüglich der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, wonach der Arbeitnehmer bei Altersteilzeittagen keinen Urlaub nehmen muss, ist bisher noch keine neue Regelung zwischen den Tarifvertragsparteien getroffen worden.
Was bedeutet dies konkret für VAA-Mitglieder?
VAA-Mitglieder, die unter den Manteltarifvertrag für naturwissenschaftlich gebildete akademische Angestellte fallen, sollten, wenn sie in Teilzeit sind, ihren Anspruch auf Altersfreizeit geltend machen und erhalten diese dann anteilig. Ferner ist darauf zu achten, dass künftig für alle unter den Tarifvertrag fallenden Beschäftigten bei der Urlaubsplanung Urlaub für Tage, an denen schon vorher feststeht, dass dort Altersfreizeittage genommen werden, nicht beantragt wird. Da die tariflichen Regelungen bei Altersfreizeit offen für betriebliche Regelungen sind, ist abzuwarten, ob die Betriebsräte künftig die Verlegung von Altersfreizeittagen in Urlaubswochen durch Betriebsvereinbarungen ausschließen.
Urteil
Betretungsverbot nach Urlaub im Risikogebiet: Anspruch auf Vergütung?
Erteilt ein Unternehmen Arbeitnehmern, die aus Coronarisikogebieten zurückkehren, ein Betretungsverbot für das Betriebsgelände, obwohl die Beschäftigten entsprechend den verordnungsrechtlichen Vorgaben keiner Absonderungspflicht – sprich Quarantäne – unterliegen, schuldet der Arbeitgeber grundsätzlich Vergütung wegen Annahmeverzugs. Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden.
Ein Unternehmen hatte zum Infektionsschutz ein Hygienekonzept erstellt, das für Beschäftigte, die aus einem vom Robert-Koch-Institut (RKI) ausgewiesenen Risikogebiet zurückkehren, eine 14-tägige Quarantäne mit Betretungsverbot des Betriebs ohne Entgeltanspruch anordnete. Die SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des betreffenden Bundeslandes sah zu diesem Zeitpunkt nach Einreise aus einem Risikogebiet grundsätzlich eine Quarantänepflicht für einen Zeitraum von 14 Tagen vor. Diese sollte jedoch nicht für Personen gelten, die über ein ärztliches Attest nebst aktuellem Laborbefund verfügen, der ein negatives Ergebnis eines PCR-Tests ausweist, der höchstens 48 Stunden vor Einreise vorgenommen wurde, und die keine Symptome einer COVID-19-Erkrankung aufweisen.
Ein Mitarbeiter des Unternehmens reiste während eines ihm erteilten Urlaubs wegen des Todes seines Bruders in die Türkei, die zu dieser Zeit als Coronarisikogebiet ausgewiesen war. Vor der Ausreise aus der Türkei unterzog er sich einem PCR-Test, der ebenso wie der erneute Coronatest nach Ankunft in Deutschland negativ war. Der Arzt des Arbeitnehmers attestierte ihm Symptomfreiheit. Das Unternehmen verweigerte dem Mitarbeiter den Zutritt zum Betrieb für die Dauer von 14 Tagen und zahlte keine Arbeitsvergütung. Mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht verlangte der Arbeitnehmer die Vergütung wegen Annahmeverzugs in Höhe von rund 1.500 Euro brutto. Er machte geltend, das Unternehmen habe zu Unrecht die Annahme seiner Arbeitsleistung verweigert. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht (LAG) gaben der Klage statt.
Nun hat das BAG ebenfalls im Sinne des Arbeitnehmers entschieden (Urteil vom 10. August 2022, Aktenzeichen: 5 AZR 154/22). Das LAG habe richtig erkannt, dass sich das Unternehmen mit der Annahme der vom Arbeitnehmer angebotenen Arbeitsleistung in Annahmeverzug befand. Das erteilte Betretungsverbot des Betriebs führte nicht zur Leistungsunfähigkeit des Klägers (§ 297 BGB), weil die Ursache der Nichterbringung der Arbeitsleistung vom Arbeitgeber selbst gesetzt wurde. Dass dem Unternehmen die Annahme der Arbeitsleistung des Klägers aufgrund der konkreten betrieblichen Umstände unzumutbar war, habe es nicht dargelegt. Die Weisung, dem Betrieb für die Dauer von 14 Tagen ohne Fortzahlung des Arbeitsentgelts fernzubleiben, war laut BAG außerdem unbillig und daher unwirksam. Das Unternehmen habe dem Mitarbeiter nicht die Möglichkeit eröffnet, durch einen weiteren PCR-Test eine Infektion weitgehend auszuschließen. Hierdurch hätte sie den nach § 618 Absatz 1 BGB erforderlichen und angemessenen Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer erreichen und einen ordnungsgemäßen Betriebsablauf sicherstellen können.
VAA-Praxistipp: Mit seinem Urteil hat das Bundesarbeitsgericht bestätigt, dass Beschäftigte bei einem Betretungsverbot des Betriebs nicht ihren Anspruch auf Vergütung verlieren, wenn das Hygienekonzept des Arbeitgebers zum Schutz der Mitarbeiter strengere als die gesetzliche Quarantänepflicht vorsieht.