Interview mit Christof Böhmer

Unternehmen in der Krise: Was passiert bei Insolvenz?

Gerade in der chemisch-pharmazeutischen Industrie sind die Auswirkungen der Krise immer deutlicher zu spüren. Vermehrt kommt es bei diesem Thema zu Rechtsanfragen an den Juristischen Service des VAA. Insbesondere kleinere und weniger resiliente Unternehmen drohen, in die Insolvenz zu rutschen. Aber was ist darunter eigentlich genau zu verstehen und was passiert mit den Beschäftigten? Antworten liefert VAA-Jurist Christof Böhmer im Interview mit dem VAA Magazin.

VAA Magazin: Wann liegt eine Insolvenz vor?

Böhmer: Insolvenz liegt vor, wenn eine Person oder ein Unternehmen überschuldet ist oder wenn Zahlungsunfähigkeit besteht – sogenannte Insolvenzgründe. Überschuldung bedeutet dabei, vereinfacht gesagt, dass die Vermögenswerte die Verbindlichkeiten nicht decken. Zahlungsunfähigkeit liegt hingegen vor, wenn die bestehenden Zahlungsverbindlichkeiten nicht innerhalb eines Zeitraums beglichen werden können, der bei einem solventen Unternehmen regelmäßig ausreichen würde, sich die Mittel hierzu auf dem Kapitalmarkt zu beschaffen. Regelmäßig ist dies ein Zeitraum von drei Wochen.

Was geschieht im Insolvenzfall?

Im Falle einer GmbH oder einer AG besteht für den Geschäftsführer beziehungsweise den Vorstand die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags. Diese Pflicht ist zum einen strafbewehrt, zum anderen führt die verspätete oder gar unterlassene Antragstellung zur persönlichen Haftung des Geschäftsführers oder Vorstands für Insolvenzausfallschäden. Ein Insolvenzantrag kann grundsätzlich auch durch jeden Gläubiger der Insolvenzschuldnerin gestellt werden. Hier ist aber Vorsicht geboten: Der Antragsteller ist gegebenenfalls Kostenschuldner bezüglich der Kosten des Insolvenzvorverfahrens.

Wie geht es dann weiter?

Mit der Antragstellung beginnt das sogenannte Insolvenzvorverfahren. Hier wird ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, dessen Aufgabe zunächst darin besteht, die Insolvenzmasse zu sichern. Hierzu wird er zumeist mit einem sogenannten Zustimmungsvorbehalt ausgestattet. Verfügungen der Schuldnerin über ihr Vermögen sind in dieser Phase nur noch mit ausdrücklicher Zustimmung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter möglich. Zudem können ihm weitere Rechte durch das Insolvenzgericht übertragen werden, wenn dies dem Gericht zur Erhaltung der Masse erforderlich erscheint.

Die zweite Aufgabe des vorläufigen Insolvenzverwalters besteht darin, dem Gericht ein Gutachten über das Vorliegen eines Insolvenzgrundes sowie das Bestehen einer hinreichenden Masse zur Deckung der Kosten des Insolvenzverfahrens zu erstatten. Beide Voraussetzungen müssen vorliegen, damit das eigentliche Insolvenzverfahren eröffnet werden kann.

Was geschieht in diesem Vorverfahren mit den Arbeitsplätzen?

Rechtlich hat die Einleitung des Insolvenzvorverfahrens keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse. Insbesondere stellt dieses allein keinen Kündigungsgrund dar. Der Arbeitgeber beziehungsweise deren Geschäftsführer oder Vorstand ist weiterhin zur Abgabe von Erklärungen wie beispielsweise Kündigungen befugt. Allerdings bedarf er hierzu nunmehr der Zustimmung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter.

Auch die Ansprüche auf Arbeitsentgelt bleiben vollumfänglich bestehen. Wird dieses aber nicht bezahlt, ist zu beachten, dass ein Klageverfahren gegen die Insolvenzschuldnerin in dem Moment gesetzlich unterbrochen wird, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wird. Gleichwohl kann es erforderlich sein, den Arbeitslohn gerichtlich geltend zu machen, wenn ansonsten der Verfall des Anspruchs droht oder wenn davon ausgegangen wird, dass ein Insolvenzverfahren letztlich nicht eröffnet wird.

Das Arbeitsverhältnis besteht fort und die Arbeitnehmer erhalten gleichwohl keinen Lohn?

Da sich durch das vorläufige Insolvenzverfahren an den gegenseitigen Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis grundsätzlich nichts ändert, trifft dies nur bedingt zu. Erhält der Arbeitnehmer keinen Lohn, kann er unter Umständen seine Arbeitsleistung zurückbehalten. Hierzu ist er berechtigt, sodass er gleichwohl den Anspruch auf das Arbeitsentgelt behält.

Mündet das Insolvenzvorverfahren in das eröffnete Insolvenzverfahren oder wird die Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels einer zur Deckung des Verfahrens hinreichenden Masse abgelehnt, so führt dies zu einem Anspruch auf Insolvenzgeld gegen die Agentur für Arbeit. Das Insolvenzgeld wird für die letzten drei Monate, in denen wegen der Insolvenz des Arbeitgebers kein Lohn gezahlt wurde, in Höhe des pauschal berechneten Nettolohns gezahlt.

Wenn das Insolvenzgeld erst nachträglich bezahlt wird, wie können die Arbeitnehmer motiviert werden, zunächst weiter zu arbeiten und dem Unternehmen so wieder aus der Krise zu helfen?

In Fällen, in denen der vorläufige Insolvenzverwalter eine Möglichkeit sieht, das Unternehmen auch im eröffneten Insolvenzverfahren weiter zu betreiben oder übertragend zu sanieren, hat er natürlich ein Interesse daran, dass die Beschäftigten durchgehend Arbeitslohn erhalten, damit sie weiterhin ihre Arbeitsleistung erhalten und diese nicht wegen nicht erfüllter Entgeltforderung zurückbehalten.

Hier wird häufig von der Möglichkeit einer Insolvenzgeldvorfinanzierung Gebrauch gemacht: Eine Bank erteilt einen Kredit in Höhe der Entgeltansprüche und erhält hierfür die später erst entstehenden Insolvenzgeldansprüche der Arbeitnehmer im Voraus abgetreten. Die Arbeitsagentur sichert der Bank hierzu bereits zu, dass dieses Insolvenzgeld mit der Verfahrenseröffnung fließen wird.

Was ändert sich im eröffneten Insolvenzverfahren?

Die Arbeitgeberbefugnisse gehen nun auf den Insolvenzverwalter über. Eine Kündigung kann beispielsweise nur noch durch den Insolvenzverwalter ausgesprochen werden. Im Falle einer Kündigungsschutzklage ist der Insolvenzverwalter der richtige Klagegegner.

Ergibt denn eine Klage gegen eine in der Insolvenz des Unternehmens ausgesprochene Kündigung Sinn?

In den meisten Fällen ja! Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hebelt das Arbeitsrecht nicht aus, sondern führt lediglich zu moderaten Rechtsänderungen: Als Inhaber der Arbeitgeberbefugnisse muss der Insolvenzverwalter, ebenso wie ein sonstiger Arbeitgeber, den Betriebsrat und Sprecherausschuss bei Betriebsänderungen beteiligen, dessen Zustimmung zu personellen Einzelmaßnahmen wie Versetzungen einholen und ihn vor einer auszusprechenden Kündigung anhören.

Aber inhaltlich wird doch die Kündigung durch den Insolvenzverwalter meist nicht angreifbar sein.

Der Insolvenzverwalter hat zwar nur eine auf höchstens drei Monate zum Monatsende reduzierte Kündigungsfrist zu beachten, benötigt aber grundsätzlich ebenfalls einen hinreichenden Kündigungsgrund im Sinne von § 1 Kündigungsschutzgesetz. Dieser wird zwar häufig in einer vom Insolvenzverwalter beabsichtigten Betriebseinstellung liegen. Zu beachten ist jedoch, dass hierfür eine endgültige Stilllegungsentscheidung getroffen sein muss. Ein Betriebsübergang oder eine übertragende Sanierung einerseits und eine Betriebsstilllegung andererseits schließen sich aus. Solange also der Insolvenzverwalter mit potenziellen Investoren oder Betriebsübernehmern verhandelt, besteht der Kündigungsgrund nicht.

Solange das Arbeitsverhältnis fortbesteht, ist das Einkommen der Beschäftigten also gesichert.

Das stimmt so leider nicht. Hierzu muss das System der Forderungen im Insolvenzverfahren kurz beleuchtet werden: Es gilt grundsätzlich eine Rangfolge für die Forderungserfüllung im Insolvenzverfahren. Zunächst sind die sogenannten Massekosten zu befriedigen. Hier handelt es sich um die Kosten des Insolvenzverfahrens selbst, also Gerichtskosten, Insolvenzverwalterhonorar et cetera. Sind diese nicht gedeckt, wird das Verfahren nicht eröffnet oder wieder eingestellt. Sodann sind die Masseschulden aus der Insolvenzmasse zu begleichen. Hier handelt es sich unter anderem um Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen, die erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen. Hierzu gehören auch die Arbeitslöhne für die Zeit nach Verfahrenseröffnung. Schließlich wird die verbleibende Masse auf die Gläubiger der nicht bevorrechtigten Insolvenzforderungen quotal verteilt.

Was bedeutet dies konkret für die Ansprüche auf Arbeitslohn?

Dies bedeutet: Es kann passieren, dass die Arbeitslohnforderungen, obgleich es sich um Masseforderungen handelt, nicht vollständig befriedigt werden können. Soweit der Insolvenzverwalter feststellt, dass die Masse möglicherweise nicht ausreicht, die Masseforderungen zu befriedigen, kann er gegenüber dem Insolvenzgericht die Masseunzulänglichkeit anzeigen. Masseforderungen sind dann ebenfalls nur noch in einer gesetzlich festgelegten Reihenfolge zu befriedigen.

Hier stehen dann die Masseforderungen an letzter Stelle, für die der Insolvenzverwalter die Gegenleistung nicht in Anspruch nimmt. Beispielsweise trifft dies auch auf Lohnforderungen zu, wenn der Insolvenzverwalter den Arbeitnehmer von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt hat. Der Arbeitnehmer hat in diesem Fall einen Anspruch auf Arbeitslosengeld aufgrund der sogenannten Gleichwohl-Gewährung – gleichwohl das Arbeitsverhältnis noch besteht.

Sind Betriebsrat und Sprecherausschuss im Falle einer Betriebsänderung in gleicher Weise zu beteiligen?

Ja, auch im Insolvenzfall bleibt es dabei, dass im Falle einer Betriebsänderung, beispielsweise einer Betriebseinstellung, ein Interessenausgleich und ein Sozialplan zu schließen sind. Hier sieht die Insolvenzordnung allerdings ein Verfahren vor, aufgrund dessen es dem Insolvenzverwalter ermöglicht wird, die Betriebsänderung vor einer Einigung über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan durchzuführen, wenn die Verhandlungen nicht in kurzer Frist zu einem Abschluss gebracht werden können.

Zudem ist der Umfang der Sozialplanleistungen beschränkt auf zweieinhalb Monatsverdienste als Abfindungsbetrag für die von Entlassungen betroffenen Beschäftigten. Diese Abfindungsansprüche sind außerdem zwar Masseforderungen, dürfen aber in ihrer Gesamtheit ein Drittel der für die Insolvenzgläubiger zur Verfügung stehenden Masse nicht übersteigen. Naturgemäß kann daher auch eine Auszahlung erst zum Ende des Insolvenzverfahrens – nach regelmäßig mehreren Jahren – erfolgen, da dieser Betrag erst dann zu ermitteln ist.

Was hat es mit dem sogenannten Schutzschirmverfahren und der „vorläufigen Insolvenz in Eigenverwaltung“ auf sich?

Es handelt sich beim „Schutzschirmverfahren“ und der „vorläufigen Eigenverwaltung“ um Spielarten des vorläufigen Insolvenzverfahrens, also vor der Eröffnung des eigentlichen Insolvenzverfahrens. Hier wird ein „vorläufiger Sachwalter“ bestellt, der Kontroll- und Anfechtungsrechte hat. Der Schuldner beziehungsweise dessen Geschäftsführer oder Vorstand bleibt weiter grundsätzlich befugt, über das Vermögen des Schuldners zu verfügen, und ist verantwortlich dafür, die Masse zu erhalten. Im Falle der vorläufigen Eigenverwaltung bestellt das Insolvenzgericht den vorläufigen Sachwalter. Es können für das spätere Insolvenzverfahren keine Masseverbindlichkeiten begründet werden.

Demgegenüber kann der Schuldner den vorläufigen Sachwalter im Falle des Schutzschirmverfahrens selbst wählen. In diesem Verfahren können auch Masseschulden begründet werden. Das Schutzschirmverfahren kommt aber nicht in Betracht bei Zahlungsunfähigkeit des Schuldners.

Beide Verfahren münden in ein reguläres Insolvenzverfahren, wenn nicht die Insolvenzgründe im Rahmen des Vorverfahrens durch Vereinbarung mit den Gläubigern beseitigt werden können. Das eigentliche Insolvenzverfahren kann auch im Wege der Eigenverwaltung – dann mit einem nicht mehr nur vorläufigen Sachwalter – mit dem Ziel eines Insolvenzplanabschlusses fortgeführt werden.

Urteil

Personalvermittlungsprovision: keine Erstattung durch Arbeitnehmer

Eine arbeitsvertragliche Regelung, die Beschäftigte dazu verpflichtet, eine vom Unternehmen für das Zustandekommen des Arbeitsvertrags gezahlte Vermittlungsprovision zu erstatten, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis vor Ablauf einer bestimmten Frist beendet, ist unwirksam. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden.

Ein Arbeitnehmer hatte mit einem Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag geschlossen, der durch Vermittlung eines Personaldienstleisters zustande gekommen war, und begann auf dieser Grundlage seine Tätigkeit am 1. Mai 2021. Das Unternehmen zahlte eine Vermittlungsprovision von rund 4.500 Euro an den Dienstleister und nach Ablauf der im Arbeitsvertrag vereinbarten sechsmonatigen Probezeit sollten nochmals mehr als 2.200 Euro fällig werden.

Laut Arbeitsvertrag war der Arbeitnehmer verpflichtet, dem Arbeitgeber die gezahlte Vermittlungsprovision zu erstatten, wenn das Arbeitsverhältnis vor dem 1. Juli 2022 von ihm selbst beendet wird. Nachdem der Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30. Juni 2021 gekündigt hatte, behielt der Arbeitgeber unter Verweis auf die entsprechende Klausel des Arbeitsvertrags einen Teilbetrag von rund 800 Euro aus dem letzten Monatsgehalt ein.

Der Arbeitnehmer klagte vor dem Arbeitsgericht auf die Zahlung dieses Betrags, weil die Regelung in seinem Arbeitsvertrag ihn aus seiner Sicht unangemessen benachteiligte und somit unwirksam war. Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht gaben dem Arbeitnehmer recht. Nun hat auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Sinne des Arbeitnehmers entschieden (Urteil vom 20. Juni 2023, Aktenzeichen: 1 AZR 265/22).

Die BAG-Richter stellten fest, dass die Regelung den Arbeitnehmer unangemessen benachteiligt hätte und somit unwirksam war. Er wäre dadurch in seinem grundgesetzlich garantierten Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes beeinträchtigt worden, ohne dass dies durch begründete Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt gewesen wäre. Der Arbeitgeber hat laut BAG grundsätzlich das unternehmerische Risiko dafür zu tragen, dass sich von ihm getätigte finanzielle Aufwendungen für die Personalbeschaffung nicht „lohnen“, weil der Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis in rechtlich zulässiger Weise beendet. Es bestehe deshalb kein billigenswertes Interesse des Arbeitgebers, solche Kosten auf den Arbeitnehmer zu übertragen.

VAA-Praxistipp: Vor allem bei der Besetzung von Stellen für hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nehmen Unternehmen regelmäßig die Dienstleitung sogenannter Recruitingagenturen oder Headhunter in Anspruch. Das Urteil das BAG verdeutlicht ausdrücklich, dass die Kosten für diese Art der Personalbeschaffung allein der Arbeitgeber zu tragen hat. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer selbst das Arbeitsverhältnis schnell wieder beendet.

Auf der Mitgliederplattform MeinVAA unter mein.vaa.de stehen für eingeloggte VAA-Mitglieder zahlreiche Infobroschüren zu arbeitsrechtlichen Themen zum Download bereit.