Interview mit Catharina Einbacher

Krise drückt Beschäftigung: Szenarien für die Trennung

Auch in der Rechtsberatung spüren die Juristinnen und Juristen des VAA die Krise in der chemischen Industrie. So steigt die Zahl der mit Kündigungen und Aufhebungsverträgen verbundenen Fälle kontinuierlich weiter. Wie gestaltet sich ein typischer Fall eigentlich? Im Interview mit dem VAA Magazin betont VAA-Juristin Catharina Einbacher, dass jeder Fall natürlich anders sei. Es könne aus Fallbeispielen keine Regel abgeleitet werden, weil es immer auf die individuellen Umstände ankomme. Doch der Ablauf von Trennungsprozessen folge durchaus gewissen Mustern und könne daher nachgezeichnet werden.

VAA Magazin: Worauf bei einem Aufhebungsvertrag grundlegend zu achten ist, hat VAA-Juristin Ilga Möllenbrink in der Februarausgabe des VAA Magazins dieses Jahr bereits ausführlich erörtert. Was ist aus Ihrer Sicht der wichtigste Punkt?

Einbacher: Besonders wichtig ist in jedem einzelnen Fall die Begleitung durch eine Juristin oder einen Juristen des VAA, und zwar von Anfang an. Denn häufig kündigt sich das Ende des Arbeitsverhältnisses schon an, ohne dass es den betroffenen Beschäftigten klar ist. Der Austausch mit dem Juristischen Service kann helfen, sich auf ein Ausstiegsszenario frühzeitig vorzubereiten.

Des Weiteren wird in unserer Beratungspraxis oftmals deutlich, dass die psychologische Komponente in Verhandlungen um die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zu unterschätzen ist. Hierbei eine kompetente rechtliche Unterstützung durch den VAA an der Seite zu wissen, ist für die Betroffenen eine erhebliche Erleichterung und hat einen unschätzbaren Wert. Unter anderem deshalb, weil die VAA-Juristen die Standards in den jeweiligen Unternehmen in vielen Fällen kennen und mit diesem Wissen für die VAA-Mitglieder das Maximum erreichen.

Können Sie ein paar konkrete Fallbeispiele nennen?

Natürlich. Nehmen wir das Fallbeispiel des Wechsels der Geschäftsführung und der nahenden Regelaltersrente. Ein Arbeitnehmer – Jahrgang 1957 – ist seit 1997 als Betriebsleiter bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Ende 2019 kommt es zu einem Wechsel in der Geschäftsführung des Unternehmens. Im September 2021 – zwei Jahre vor Erreichen der Regelaltersgrenze – wird der Arbeitnehmer zu einem Personalgespräch eingeladen, bei dem es für ihn völlig überraschend um seinen nahenden Renteneintritt gehen wird.

Allerdings geht es nicht um ein Ausstiegsszenario. Im Gegenteil: Er soll dem Unternehmen über sein Renteneintrittsalter hinaus weiter als Berater zur Verfügung stehen. Um die Arbeitsbelastung zu reduzieren, soll ein Teil der Aufgaben im Homeoffice ermöglicht werden. Finanzielle Einbußen soll es nicht geben. Der Arbeitnehmer bittet darum, das Angebot schriftlich festzuhalten und ist umso mehr überrascht, als von dem Angebot zwei Wochen später keine Rede mehr ist, als er erneut zum Gespräch mit der Geschäftsführung persönlich geladen wird. Hier geht es nun nur noch um seine Bereitschaft, das Unternehmen bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze – mit anderen Worten: möglichst bald – zu verlassen. Eine Verschriftlichung der teils unseriösen arbeitgeberseitigen Angebote ist nicht vorgesehen.

Das ist ja schon eine ziemlich dreiste Strategie vonseiten des Unternehmens.

Ja, zumal vom Unternehmen auch bereits im März 2021 ein Chemiker eingestellt wurde, der die bisherigen Aufgaben des betroffenen Arbeitnehmers vollständig übernehmen soll und bereits als Betriebsleiter im Organigramm bezeichnet ist. Das erste Angebot des Unternehmens besteht in einer sechsmonatigen Freistellung. Ein wichtiges Detail: Der Arbeitnehmer hatte in seinem Arbeitsvertrag keine Befristung auf die Regelaltersgrenze. Diese versuchte der Personalleiter vom Arbeitnehmer noch schnell nachträglich unterzeichnen zu lassen, was dieser nach Rücksprache mit dem VAA selbstverständlich nicht tat.

Dem Arbeitnehmer ging es nicht darum, den Arbeitgeber finanziell bluten zu lassen, aber ein faires Angebot nach so vielen Jahren im Dienste des Unternehmens erwartete er selbstverständlich schon. Heraus kam daher ein Aufhebungsvertrag mit nahtlosem Übergang in die Regelaltersrente, eine Freistellung bis zum Beendigungsdatum sowie einer Abfindung in Höhe von 52.000 Euro.

Alles klar, man hat sich also verglichen. Überhaupt scheint deutlich zu werden, wie häufig solche Prozesse mit einem Vergleich abgeschlossen werden. Was gibt es noch für interessante Fallbeispiele aus Ihrer Beratungspraxis?

In der Tat ist es in sehr vielen Fällen so, dass sich durch einen Vergleich langwierige und potenziell belastende Prozesse für die Beschäftigten vermieden werden. Die Resultate können sich in den meisten Fällen auch absolut sehen lassen. So wie auch bei einem anderen Beispiel aus der Praxis: Hier haben wir einen Fall von längerer Krankheit. Es geht um einen Leiter Arbeitssicherheit, der in einem Kündigungsschutzverfahren auch einen Vergleich erzielt hat. Der Arbeitnehmer – Jahrgang 1977 – ist circa viereinhalb Jahren bei der Arbeitgeberin als Leiter Arbeitssicherheit beschäftigt und zur leitenden Fachkraft für Arbeitssicherheit bestellt. Das monatliche Bruttogehalt beträgt zuletzt 11.000 Euro plus Bonus in Höhe von etwa 40.000 Euro brutto. Im Mai 2021 erkrankt der Arbeitnehmer auf unabsehbare Zeit. Mit Schreiben im Oktober und November 2021 fordert die Arbeitnehmerin ihn auf, in einen Austausch über seine gesundheitliche Situation zu treten. Obwohl der Arbeitnehmer dieser Aufforderung im Rahmen seiner Möglichkeiten sogar nachkommt, kündigt der Arbeitgeber kurz vor Weihnachten 2021 das Arbeitsverhältnis.

Der VAA erhob für den Arbeitnehmer fristgerecht Kündigungsschutzklage beim zuständigen Arbeitsgericht. Im Kündigungsschutzverfahren einigten sich die Parteien dann im April 2022 auf einen Vergleich, der die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses zum 31.Dezember 2022 beinhaltete. Die Abfindungszahlung liegt hier in der langen Freistellungszeit und dem Hinausschieben des Beendigungsdatums verborgen. Darüber hinaus erhielt der Arbeitnehmer für 2020/21 sowie 2021/22 die ihm zustehenden Bonuszahlungen. Was darüber hinaus grundsätzlich alles noch in einen Vergleich über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gehört, lässt sich noch einmal im Detail im Interview meiner Kollegin Ilga Möllenbrink in der Ausgabe des VAA Magazins vom Februar 2023 nachlesen.

Das stimmt. Wie sieht es eigentlich mit Freistellungen aus?

Ein gutes Beispiel. Da denke ich an eine überraschende Freistellung samt Angebot eines Aufhebungsvertrags und Lossagung vom Wettbewerbsverbot zurück. Ein Arbeitnehmer – Jahrgang 1967 – ist seit 2001 beim Arbeitgeber tätig, zuletzt in der Funktion Head of Product Development. Sein Jahresbruttogehalt liegt bei circa 255.000 Euro und setzt sich zusammen aus 190.000 Euro Fixgehalt und 65.000 Euro Bonus. Mit dem Arbeitnehmer ist ein Wettbewerbsverbot vereinbart.

Im Oktober 2022 wird ihm völlig überraschend mitgeteilt, dass man sich von ihm trennen möchte und er wird sofort freigestellt. An dem Wettbewerbsverbot will der Arbeitgeber festhalten. Das Unternehmen befindet sich in starkem Wandel, durch das neue Management wird eine Neuausrichtung angestrebt. Im November 2022 kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis, da die Vorstellungen über eine Aufhebungsvertragslösung zu weit auseinander liegen.

Hat sich der Arbeitnehmer gewehrt?

Selbstverständlich. Der Arbeitnehmer, vertreten durch eine VAA-Juristin, legte rechtzeitig Klage ein, obwohl man sich bereits in Aufhebungsvertragsverhandlungen befindet. Niemals sollte dies versäumt werden, auch wenn die Verhandlungen zu dem Zeitpunkt aussichtsreich erscheinen. Denn nach Ablauf der Klagefrist gilt die Kündigung als wirksam und die Verhandlungsbasis für einen Aufhebungsvertrag ist dahin.

Im vorliegenden Fall einigten sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach zähen Verhandlungen kurz vor Jahresende unter anderem auf das Ende des Arbeitsverhältnisses zum Dezember des darauffolgenden Jahres sowie eine Abfindungszahlung in Höhe von 480.000 Euro plus Zielprämienzahlungen sowie eine Outplacementberatung und eine vorzeitige Beendigungsmöglichkeit. Da der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis gekündigt hat, stand dem Arbeitnehmer ein Lossagungsrecht vom Wettbewerbsverbot zu, das er rechtzeitig ausübte. Damit stand ihm der Arbeitsmarkt sofort und in alle Richtungen offen.     

Das klingt gut. Aber es wird auch hier deutlich, wie wichtig es ist, die eigenen Rechte genau zu kennen und auch verschiedene Fristen zu beachten.

Ganz genau. Deswegen schließe ich auch mit meinem Ratschlag aus der ersten Antwort: Sobald Beschäftigte auch nur einen leisen Verdacht oder ein komisches Bauchgefühl haben, was ihre Zukunft bei ihrem Unternehmen angeht, sollten sie sich vom Juristischen Service des VAA beraten lassen. Die Rechtsberatung kostet nichts und sorgt dafür, dass man rechtzeitig gewappnet ist, wenn es dann wirklich zu kriseln beginnt. Im besten Fall sind die Zweifel unbegründet – und die VAA-Mitglieder sehen ihre eigene Position nochmals gestärkt. Auch dies ist psychologisch nicht zu unterschätzen.

Urteil

Verfallener Urlaub trotz unterbliebener Belehrung: Arbeitgeber muss durchgängige Arbeitsunfähigkeit beweisen

Wenn sich ein Arbeitgeber darauf beruft, dass Urlaubsansprüche eines Arbeitnehmers trotz Versäumung der arbeitgeberseitigen Mitwirkungspflicht bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs erloschen sind, weil der Arbeitnehmer während des gesamten Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankt oder erwerbsgemindert war, trägt er dafür grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast. Das hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg entschieden.

Ein Arbeitnehmer war seit 1998 bei seinem Arbeitgeber beschäftigt. Seit Oktober 2006 war er dauerhaft arbeitsunfähig und erhielt mehrfach eine befristete Erwerbsminderungsrente bewilligt. Im Juni 2019 teilte die Deutsche Rentenversicherung dem Arbeitnehmer mit, dass die ihm gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Ende September 2026 als Dauerrente weitergewährt werde. Der Arbeitnehmer übersandte seinem Arbeitgeber den Rentenbescheid und wies auf die dadurch eingetretene Beendigung des Arbeitsverhältnisses hin. Zudem verlangte er die Abgeltung der ihm noch zustehenden Urlaubstage seit dem Jahr 2006. Da der Arbeitgeber nur zur Zahlung von Urlaubsabgeltung für die Jahre 2018 und 2019 bereit war, klagte der Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht. Er vertrat die Auffassung, dass infolge der unterbliebenen Belehrung über das Bestehen und den drohenden Verfall von Urlaubsansprüchen durch den Arbeitgeber ein Verfall des Urlaubs nicht eingetreten sei. Vielmehr seien die Ansprüche seit 2006 jeweils in das Folgejahr übertragen worden und hätten sich mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Zahlungsansprüche verwandelt. Das Arbeitsgericht wies die Klage mit der Begründung ab, die Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers bis 2017 seien verfallen, weil die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers bei der Verwirklichung des Urlaubs gegenüber dem langzeiterkrankten Arbeitnehmer nicht bestanden hätten.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichts (Urteil vom 12. Mai 2023, Aktenzeichen: 12 Sa 1250/22). Das LAG betonte unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet sei, den Arbeitnehmer über das Bestehen und den drohenden Verfall von Urlaubsansprüchen zu informieren – andernfalls blieben die Urlaubsansprüche bestehen. Dies gelte allerdings nicht, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig beziehungsweise voll erwerbsgemindert war. In diesem Fall verfalle der Urlaubsanspruch weiterhin nach Ablauf der 15-Monatsfrist – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist. Denn hier seien nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal.

Auch eine Abgeltung von Urlaubsansprüchen aus dem Jahr 2006 – also vor einer dauerhaften Erwerbsminderung – konnte der Arbeitnehmer laut LAG nicht verlangen. Grundsätzlich trage der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Arbeitnehmer während des gesamten Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankt oder erwerbsgemindert war und deshalb der Urlaubsanspruch trotz Versäumung der arbeitgeberseitigen Mitwirkungspflicht erloschen ist. Jedoch besteht laut LAG für den Arbeitnehmer eine Darlegungslast, wenn der Arbeitgeber außerhalb des fraglichen Geschehensablaufs steht und nur der Arbeitnehmer aufgrund seiner Sachnähe die wesentlichen Tatsachen kennt. Im vorliegenden Fall war strittig, ob der Arbeitnehmer zwischen der Erkrankung seit Jahresbeginn 2006 bis zum 29. Juli 2006 und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses Ende September 2006 arbeitsunfähig erkrankt war oder nicht. Im Hinblick auf den lang währenden Krankengeldbezug und die anschließende Rentenbewilligung sowie die zeitliche Distanz zum Geschehen hätte der Arbeitnehmer aus Sicht des LAG darlegen müssen, aufgrund welcher besonderen Umstände in dem Intervall von zwei Monaten ab Ende Juli 2006 Arbeitsfähigkeit eingetreten sein soll und weshalb die Rentenversicherung dennoch für die Zeit ab Oktober 2006 eine volle Erwerbsminderung angenommen hat.

VAA-Praxistipp

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat im Dezember 2022 entschieden, dass der gesetzliche Anspruch von Beschäftigten auf bezahlten Jahresurlaub zwar der gesetzlichen Verjährung unterliegt, aber erst wenn eine Belehrung zu den Verfallfristen durch den Arbeitgeber erfolgt ist. Das gilt laut BAG allerdings nicht, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig beziehungsweise voll erwerbsgemindert war. Das LAG Berlin-Brandenburg hat in seinem Urteil nun entschieden, dass der Arbeitgeber dafür grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast trägt, für den Arbeitnehmer unter bestimmten Umständen allerdings auch Darlegungslasten können bestehen.