Wohlstand in der Gesellschaft

Zurück zum Glück

Von Axel Ditteney-Botzen und Simone Leuschner

Bescheren wirtschaftlicher Erfolg und ausreichende materielle Versorgung ein sorgenfreies Leben? Hoffentlich ja, jedenfalls richten viele Regierungen auf der Welt ihre Politik an dieser Maxime aus. Macht Wohlstand dann zufrieden und sogar glücklich? Die Beantwortung dieser Frage fällt nicht leicht, die Zusammenhänge sind komplex. Ein Blick auf andere Herangehensweisen lohnt sich. Deshalb schaut das VAA Magazin zu Beginn eines krisenbehafteten Jahres unter anderem nach Bhutan. Mit dem Bruttonationalglück setzt man im kleinen Königreich in Südasien dem in Industrieländern etablierten Bruttoinlandsprodukt eine alternative Messgröße entgegen.

Sicher kennen Sie diese Sprichworte: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige“. Diese Lebensweisheiten suggerieren, dass der Mensch eine individuelle Verantwortung dafür trage, glücklich zu sein – und dass er sich dafür anstrengen, etwas leisten müsse. Damit sind wir aufgewachsen, kaum jemand hierzulande und in unserem Kulturkreis generell wird dieses wahrscheinlich Jahrhunderte alte Paradigma infrage stellen. Wir leben danach ganz selbstverständlich, so wie es viele Generationen vor uns taten.

Die Worte „Glück“ und „glücklich“ gehören nicht zum wirtschaftswissenschaftlichen Fachvokabular. Die Ökonomen sprechen von Wohlstand, Wohlfahrt und Zufriedenheit, meinen damit aber eine Art Glück, wird der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Karl Georg Zinn zitiert. Ein entsprechender kausaler Zusammenhang ist aber bislang nicht bewiesen. Glücksforscher fanden empirische Evidenz dafür, dass eine Steigerung des nationalen Einkommens sich nicht immer positiv auf die Lebenszufriedenheit der Bürger auswirkt. Andere wiederum sagen, dass die Lebenszufriedenheit in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs höher war als in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs oder Stagnation.

Reichtum wird mit Erfolg, Sicherheit oder Lebensqualität gleichgesetzt. So kommt es, dass die soziale Bedeutung des Geldes nicht nur im Alltag der Menschen, sondern auch in der Wirtschaftspolitik Ausdruck findet, nämlich in der Zielsetzung, ökonomischen Wohlstand zu mehren. Als eine Messgröße für die wirtschaftliche Leistung hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) etabliert. Erhebungen unter anderem des Statistischen Bundesamtes für den Zeitraum seit 1990 zeigen, dass die Entwicklung der Lebenszufriedenheit in Deutschland nicht durch den weiteren Anstieg des BIPs positiv beeinflusst worden zu sein scheint.

Seit den 1970er Jahren erforscht der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard A. Easterlin den Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und Einkommen. Ein Ergebnis: Geld zu haben, erhöht nur bis zu einem bestimmten Grad die Lebenszufriedenheit – kein Geld oder weniger Geld zu haben, macht hingegen potenziell unglücklich. Das ist das sogenannte Easterlin-Paradoxon. Leben Menschen in Armut, ist das Einkommen wichtig für ihr Glück. Sobald sie aber einen gewissen Wohlstand erreicht haben und finanziell abgesichert sind, verliert das Einkommen an Bedeutung. Es gibt scheinbar einen „Setpoint of Happiness“, also eine gewisse Sättigungsgrenze des Glücks, das sich aus Wohlstand speist. Easterlins Erkenntnisse gaben unter anderem Anstoß zur Diskussion um angemessene und hilfreiche Wohlstandsmessungen.

Deutschlandkarte des Glücks

Schon seit den 1960er Jahren werden in Deutschland Glück und Zufriedenheit im Rahmen von allgemeinen Bevölkerungsumfragen erforscht. Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema hat seitdem stark zugenommen. Der sogenannte Glücksatlas ist eine seit 2011 jährlich erscheinende Studie zur Lebenszufriedenheit und zum Glücksgefühl der Bevölkerung Deutschlands. Für den Atlas werden Menschen in repräsentativen Umfragen per Selbsteinschätzung nach der Bewertung ihrer Lebenssituation gefragt. Unterschiede in der Bewertung der Lebenssituation nach Region, Altersgruppe, Geschlecht und weiteren Kriterien werden ebenfalls erfasst und erforscht.

In der aktuellen Ausgabe, dem „SKL Glücksatlas 2022“, berichten die Autoren der Studie von einer leichten Erholung der Lebenszufriedenheit der Deutschen. Sie lesen richtig: Die Süddeutsche Klassenlotterie als Glücksspielveranstalter sponsert diesmal die Arbeit des Teams um den renommierten Wirtschaftswissenschaftler und Hochschullehrer Prof. Bernd Raffelhüschen. Das errechnete „Glücksniveau“ liegt 2022 genau zwischen dem Wert des „Vorkrisenjahres“ 2019 und dem des ersten Coronajahres 2020. Der Ukraine-Krieg und Ängste vor einer Ausweitung des Krieges auf Europa belasten die Hälfte der Deutschen jedoch mental spürbar, erste Auswirkungen der zuletzt stark gestiegenen Inflation auf die Lebenszufriedenheit sind ebenfalls bereits messbar.

Acht sogenannte Wohlfahrtsindikatoren werden für die Studie ausgewertet. Sie stehen repräsentativ für Wohlstand (Reallohn, Armutsgefährdungsquote, Wohnkosten), Demografie (Alter, Kinderreichtum), Gesundheit (psychische Erkrankungen, Übergewicht/Body-Mass-Index) und Umweltqualität (vorhandene Wald- und Erholungsflächen). 2022 zeigten sämtliche relevanten wirtschaftlichen Indikatoren nach unten und beeinflussten die Lebenszufriedenheit somit negativ: Die Reallöhne sanken, die Wohnkosten stiegen und die Armutsgefährdungsquote nahm zu. Die Pandemie hat auch die Gesundheitsindikatoren negativ beeinflusst: Sowohl die Anzahl psychischer Erkrankungen als auch die Anzahl übergewichtiger Personen sind gestiegen.

Absturz der Zuversicht

Und die Aussichten? Die Ergebnisse mehrerer zuletzt durchgeführter Umfragen legen nahe: Die „Mehrheit der Deutschen blickt mit Sorgen auf 2023“. So titelte das Handelsblatt am 27. Dezember 2022. Der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski hat die Umfragen ausgewertet und erkannt, dass bei den Menschen in Deutschland „die Geldsorgen größer sind als die Angst vor Krankheit oder Klimawandel“. Im dritten Krisenjahr nach Beginn der Coronapandemie sind vielfältige negative Auswirkungen der russischen Aggression gegen die Ukraine hinzugekommen. Schmerzlich, fast schockierend, ist vielen bewusst geworden, wie verletzlich Sozialstaat, Unternehmen und Haushalte durch die Abhängigkeiten aus den globalen Verflechtungen hinsichtlich Energieversorgung, Warenversorgung, wirtschaftlicher Stabilität und Sicherheit sind. Die Einwohner in Deutschland fühlen sich und ihren Wohlstand durch Versorgungsengpässe und Inflation bedroht – das schürt Sorgen und Zukunftsängste, vor allem bei Älteren, Frauen und Geringverdienern. Für Opaschowski ist nach Sichtung der Umfrageergebnisse klar, „dass sich die Menschen nach einer besseren Stimmung sehnen“. Die große Mehrheit der Befragten habe sich vorgenommen, im neuen Jahr gelassener und optimistischer zu denken und zu handeln. Die Gedanken beeinflussen schließlich maßgeblich die Gefühle.

Geld als Booster fürs Glück?

Einkommen, Wohlstand und Reichtum ermöglichen nicht automatisch ein sorgenfreies, zufriedenes Leben. Zielt das Handeln einer Regierung aber darauf ab, muss sie zu einem geeigneten Ziel-, Maßnahme- und Messsystem greifen. Das BIP taugt hingegen nur als Indikator für wirtschaftliche Leistung und ökonomischen Wohlstand und ist daher zunehmend in die Kritik geraten. Fachleute kritisieren beispielsweise, dass im BIP weder die ungleiche Verteilung von Einkommen zwischen Bevölkerungsgruppen noch die negativen Folgen des Verbrauchs begrenzter Ressourcen oder von Umweltbelastungen und Klimaveränderungen angemessen erfasst werden. Während die Ausgaben für Sanierungsarbeiten zur Beseitigung von Umweltschäden oder Zerstörungen nach Naturkatastrophen in vollem Umfang das BIP steigern, werden die Umweltschäden selbst oder menschliches Leid nicht „bepreist“. Es gibt jedoch alternative Ansätze.

Breite Sicht statt Tunnelblick

Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) behebt einige dieser Defizite. Er wird seit 1991 vom Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) in Heidelberg „federführend“ berechnet und kommentiert. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt die aufwändigen Analysen und die Publikation der Ergebnisse. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses des vorliegenden VAA Magazins war der NWI 2021 verfügbar.

In den NWI fließen Daten zu insgesamt 21 Faktoren ein, um ein realistischeres Bild als das BIP zu erhalten. Die Berechnung stößt jedoch ebenso an methodische Grenzen, da jeder Faktor in Geldbeträgen erfassbar sein muss. Wichtige wertsteigernde Komponenten des Indexes sind der private Konsum, die Wertschöpfung durch Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten sowie ein Teil der staatlichen Konsumausgaben, wenn sie als wohlfahrtsstiftend betrachtet werden können. Gegengerechnet werden zum Beispiel Aufwendungen zum Ausgleich von Umweltbelastungen oder für den Umstieg auf erneuerbare Energieträger, Folgekosten von Luftverschmutzung oder Lärmbelastung sowie Kosten im Gesundheitswesen, die als Folge von Verkehrsunfällen entstehen. Auf diese Weise wurde die Berechnung des NWIs angepasst, damit auch „Schattenseiten“ des grundsätzlich positiv bewerteten Konsums in der Bilanz abgebildet werden. Da bislang für viele Umweltbelastungen noch nicht genug Daten oder realistische „Preise“ vorliegen, gehen die FEST-Fachleute selbst von einer „Unterbewertung ökologischer Aspekte im NWI“ aus.

Zu einem grundsätzlichen Umdenken fordern auch Unternehmenslenker auf. Ideen für „eine neue Wirtschaft und ein besseres Leben“ präsentiert Waldemar Zeiler in seinem Buch „Unfuck the Economy“. Zeiler ist Mitinhaber von einhorn, einem „Purpose-Unternehmen“ für nachhaltig produzierte Kondome und Monatshygieneartikel. Er kritisiert die rigide Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in den meisten Staaten der Erde auf die Erhaltung von Wachstum und monetärem Wohlstand, weil sie Ungleichheit und Ausbeutung von Ressourcen, Tieren und Menschen bedinge. Zeiler bemängelt beispielsweise, dass die „BIP-Ampel“ auch grün anzeigt, wenn Bienen aussterben, die uns ihre Dienstleistungen zuvor kostenlos „angeboten“ haben. Oder wenn Krankenhäuser und Pflegeheime durch das Einsparen von Arbeitskräften eine höhere Rendite einfahren müssen. Oder dass die private Pflege und Betreuung von Kindern und Senioren für Lenkungsentscheidungen überhaupt nicht berücksichtigt würden. „Muss Wirtschaft so sein?“, fragt Zeiler.

Nationalglück in der „Schweiz Südasiens“

In Südasien, am Fuß des Himalajas, wird seit Jahrhunderten ein komplett anderer Ansatz verfolgt: Im kleinen Königreich Bhutan gelten Glück und Zufriedenheit mehr als materieller Reichtum und eine herausragende Wirtschaftsleistung. Dieser Anspruch ist unter dem Begriff „Bruttonationalglück“ sogar in der Verfassung verankert. Bhutan liegt zwischen Indien und Tibet und ist flächenmäßig vergleichbar mit der Schweiz – und wird von gerade einmal 750.000 Menschen bewohnt. Bhutan ist seit einer Verfassungsreform 2008 eine demokratische, konstitutionelle Monarchie samt eigenem Parlament. Die Idee des Bruttonationalglücks (BNG – auf Englisch gross national happiness) entsprang einst der Überlegung, dass eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft nur im Zusammenspiel materieller, kultureller und spiritueller Schritte möglich werde, die einander ergänzen und verstärken. Möglichst viele Bhutanerinnen und Bhutaner sollen definitionsgemäß als glücklich gelten, die Lebensbedingungen der weniger glücklichen Einwohner verbessert und denen der glücklicheren angeglichen werden.

Um diese Dimensionen und Zusammenhänge im Bruttonationalglück widerzuspiegeln, wurden vier Säulen entwickelt: Schutz der Umwelt, „gute“ Regierungs- und Verwaltungsstrukturen, Förderung einer sozial gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung sowie Bewahrung und Förderung kultureller Werte und Traditionen. Aus den vier Säulen ergeben sich neun Domänen, die den ganzheitlichen Ansatz des BNGs repräsentieren sollen. Die neun Domänen sind wiederum in 33 Indikatoren untergliedert, um möglichst viele verschiedene Aspekte des Wohlbefindens abzudecken: die „Gross National Happiness Indicators”. Der Stand der Entwicklung wird durch regelmäßige ausführliche Umfragen erfasst. Anfangs waren die Ergebnisse noch nicht repräsentativ, da die Verwaltungsstrukturen des Landes ein homogenes, flächendeckendes Vorgehen behinderten. Inzwischen liefern die Rückmeldungen aus den Befragungen aber hilfreiche Ergebnisse, die es ermöglichen, Korrekturmaßnahmen zu planen und in politische Entscheidungen einfließen zu lassen. Laut der letzten Erhebung im Jahr 2015 gelten 43,4 Prozent der Menschen in Bhutan als glücklich – eine Verbesserung um 1,7 Prozent zur vorherigen Befragung 2010.

Praxistest mit VAA-Bezug

VAA-Mitglied Dr. Rolf Wildförster hat knapp zweieinhalb Jahre in Bhutan gelebt und gearbeitet. Für ein Joint Venture der Tashi Group aus Bhutan und der deutschen SKW Stahl-Metallurgie Holding AG leitete er von Juli 2010 bis Oktober 2012 die Errichtung und den Betrieb einer Calciumsilicium-Produktionsstätte. Eingesetzt werden Calciumsilicide beispielsweise in der Metallverarbeitung. Dort kommen sie unter anderem wegen ihrer stark reduzierenden Eigenschaften als Desoxidationsmittel für Stähle zum Einsatz. Ich habe den heute 65-jährigen Pensionär Ende November 2022 in einem Interview zu seinen Erlebnissen und Erfahrungen befragt. Den Kontakt zu Bhutan hat Wildförster seit seiner Zeit als Werksleiter gehalten – und ist von den Menschen und der Natur noch immer hörbar begeistert. Er ist zwar seit Herbst 2021 im Ruhestand, berät aber die bhutanische Regierung als Senior Consultant für das Wirtschaftsministerium und genießt damit weiterhin Einblick in die Politik im kleinen Königreich.

Das Land leistet sich, gemessen an der geringen Einwohnerzahl, noch immer einen großen Verwaltungsapparat. Die Bürokratie wird aber nach Wildförsters Beobachtung von der Bevölkerung „nicht als erdrückend empfunden“. Steuern und Abgaben werden zielgerichtet erhoben, die Einnahmen transparent verlinkt und zum Nutzen der jeweils Steuerpflichtigen verwendet. Abgaben von Straßenanrainern fließen beispielsweise direkt in den Ausbau und die Sanierung der lokalen Straßen. Umwelt- und Naturschutz werden in Bhutan großgeschrieben. So steht beispielsweise in der Verfassung, dass die bewaldete Fläche des Landes nicht unter 60 Prozent fallen dürfe – 2021 waren über 70 Prozent der Landesfläche bewaldet, zudem ist rund ein Viertel des Landes Teil verschiedener Nationalparks.

Bhutan ist aber auch ein Agrarland mit nur wenig Industrie. 50 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in der Landwirtschaft. 72 Prozent der Menschen sind Buddhisten, der Buddhismus ist Staatsreligion – Konflikte um Land und Besitz zwischen Mensch und Tier, wenn beispielsweise Raubtiere die Nutztierbestände der Bauern bedrohen, werfen vor dem Hintergrund des buddhistischen Glaubens viele Konflikte auf, die bei uns wenig relevant sind. In der Folge hat sich die Landflucht verstärkt, was wiederum in den Städten zu gesteigerter Arbeitslosigkeit und verschärfter Wohnungsnot führt.

Die Haupteinnahmequellen für das Land sind in Wasserkraftwerken produzierter Strom, der nach Indien exportiert wird, und der Tourismus. Massentourismus ist in Bhutan unbekannt – nur wenige Touristen, vorwiegend Kulturinteressierte, Wanderer und Vogelkundler, finden den Weg dorthin. Sie müssen eine erst kürzlich von 65 auf 200 US-Dollar pro Tag erhöhte Nachhaltigkeitssteuer berappen – zuzüglich der Übernachtungs- und Transportkosten. Aufgrund der insgesamt geringen Einnahmen, aber gestiegenen Preise auf den Weltmärkten gehen die staatlichen Devisenreserven inzwischen zur Neige. Viele Güter können daher nicht mehr importiert werden und werden knapp, auch Lebensmittel – nur etwa ein Drittel des Reises kann selbst produziert werden – sowie Treibstoffe und Gas zum Kochen.

Von wirtschaftlicher Stärke kann im Fall Bhutan daher sicher nicht die Rede sein. Der Philosophie hinter der Idee des „Nationalglücks“ zufolge soll der „Reichtum“ auf die Menschen verteilt werden; Teilhabe und Gerechtigkeit sind wichtiger als Einkommen und Vermögen. Es herrscht kein Effizienzgebot, kein Wettbewerb. Trotzdem pflegen nach Wildförsters langjähriger Beobachtung viele Vorgesetzte mit ihren Mitarbeitern einen „Umgang nach Gutsherrenart“. Ausbeutung gibt es ebenso, besonders in Minen und Fabriken in Privatbesitz, also dort, wo der Staat nicht steuert. Der „Kidu“ entspricht der in westlichen Sozialwirtschaften bekannten Sozialhilfe. Die staatliche Alimentierung ist so großzügig, dass Empfänger kaum den Anreiz verspüren, um zu arbeiten, solange sie „im Leistungsbezug“ sind.

Rolf Wildförsters persönliches Resümee fällt so aus: Sein Leben hat sich angesichts der Erfahrungen in und mit Bhutan stark verändert. Er pflegt inzwischen eine recht minimalistische Einstellung. Meist heißt es „brauchen wir doch nicht“ und „ist nicht wichtig“. Zeit mit der Familie, Freunden und ehemaligen Kollegen zu verbringen, das Zwischenmenschliche, sei hingegen viel wichtiger geworden. „Der Blick auf den Sinn des Lebens und wofür man sich Zeit nimmt, hat sich verändert, ist geschärft.“ Seiner Frau geht es genauso – sie begleitet ihn auch weiter auf seinen immer noch häufigen Reisen nach Bhutan.

Was wäre, wenn?

Nun sind die Leserinnen und Leser gefragt: Halten Sie es für erstrebenswert, unser auf das Streben nach der Mehrung oder wenigstens dem Erhalt von Wohlstand ausgerichtetes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell anzupassen oder gar aufzugeben? Welche Konsequenzen erhoffen, erwarten oder befürchten Sie von einem solchen Paradigmenwechsel – im Kleinen für sich persönlich und im Großen für alle anderen in diesem Land? Könnten wir, wenn der gesellschaftliche Konsens und der politische Wille vorhanden wären, so etwas überhaupt umsetzen angesichts der starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen mit den Menschen in anderen Ländern, vor allem unseren Handelspartnern? Wir sind gespannt auf Ihre Ansichten, Ideen und Fragen – schreiben Sie uns einfach einen Leserbrief, egal ob postalisch oder elektronisch an redaktion@remove-this.vaa.de. Wir freuen uns über Ihr Feedback!

Ministerium für Glück und Wohlbefinden – Interview mit Gina Schöler

Ministerium für Glück und Wohlbefinden – Interview mit Gina Schöler

Gina Schöler ist als selbst ernannte Glücksministerin unterwegs, um andere dazu zu ermutigen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und gemeinsam das „Bruttonationalglück“ zu steigern. Mit ihren außergewöhnlichen Ansätzen begeistert sie nicht nur Menschen, sondern auch Unternehmen und sogar echte Bundesministerien. Ihr Ministerium für Glück und Wohlbefinden ist eine unabhängige Initiative und eine multimediale Kampagne. Es bringt die Themen Zufriedenheit, Lebensgestaltung und seelische Gesundheit spielerisch und kreativ ins Gespräch.

VAA Magazin: Wann haben Sie sich neu erfunden?

Schöler: Die Idee des Ministeriums gibt es seit 2012. Ich habe damals in Mannheim meinen Master in Kommunikationsdesign gemacht. In einem Seminarprojekt entstand die Idee, welche von mir und meinem Kommilitonen Daniel Clarens als Masterthesis ausgearbeitet wurde. Ich war damals voller Tatendrang, hatte noch unglaublich viele Ideen und Visionen und wollte das Ministerium für Glück und Wohlbefinden weiterführen, diese Initiative wachsen lassen und mit Leben füllen. Also erfand ich 2013 meinen eigenen Beruf als „Glücksministerin“ und bin seitdem selbstständig in glücklicher Mission unterwegs.

Wie bringen Sie den Menschen Glück?

Wir stellen auf kreative, alltagsnahe und unkonventionelle Weise viele Fragen, die im turbulenten Alltag oft untergehen: Was ist uns wirklich wichtig? Welche Werte stellen wir in den Mittelpunkt? Was brauchen wir, um zufrieden und glücklich zu sein? Diese Initiative animiert zum Mitmachen: miteinander in den Austausch zu gehen, Ideen einzubringen und vor allem diese auch umzusetzen. Das bringt die Menschen in die Selbstwirksamkeit. Denn Glück ist nicht etwas, das mit einem Pauschalrezept verordnet werden kann – man muss es selbst anpacken!

Das tun wir auf unterschiedlichste Weise: in kreativen Workshops, interaktiven Vorträgen, Onlineevents, Mitmachaktionen, Büchern, Artikeln, Podcasts und vieles mehr. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wie man die überaus wichtigen Erkenntnisse aus der Positiven Psychologie und Glücksforschung auf die öffentliche Agenda setzen kann. Und das ist gerade in diesen Zeiten wichtiger denn je.

Gerade im Schulkontext und in Unternehmen merken wir, wie der Bedarf wächst und wächst! Ich arbeite viel mit Schulklassen und Lehrkräften zusammen, hier merken wir enorm die Belastungen der letzten Jahre und die Dankbarkeit, wenn Menschlichkeit mal wieder in den Mittelpunkt gestellt wird. Das gleiche gilt für die Wirtschaft: Prävention im Bereich der seelischen Gesundheit ist unglaublich wichtig und wir können hier sehr viel bewirken, wenn wir wertschätzend und offen miteinander umgehen, ernst gemeinte Selbstfürsorge betreiben und Glück nicht als ein „Nice to have“, sondern als elementaren Grundbaustein für eine sozial nachhaltige Unternehmensführung ansehen. Man merkt schnell: Glück hat keine Zielgruppe – vom Vorschulkind bis zur Führungskraft, vom Start-up bis zum DAX-Konzern ist alles mit dabei. Und das macht meinen Arbeitsalltag unglaublich spannend und schön!

Letztlich ist es meine große Leidenschaft, in den Köpfen und Herzen der Menschen etwas zu bewegen. Sie aus dem Autopiloten spielerisch herauszubekommen, damit sie beginnen nachzudenken, was sie wirklich wollen, was sie glücklich macht und was sie dafür eben auch aktiv tun und verändern können.

Macht Geld wirklich glücklich?

Das Wohlbefinden steigt nur bis zu einem gewissen Grad parallel mit dem Kontostand. Als Menschen haben wir ein inneres Bedürfnis nach Gerechtigkeit, deswegen ist zum Beispiel beim Einkommen das relative, und nicht das absolute Einkommen entscheidend für unsere Zufriedenheit. Geld kann Sorgen nehmen und auch zu Momenten der Freude verhelfen – sei es der Urlaub, das tolle Kleid oder das Abendessen im neuen Restaurant. Wichtig ist, sein Glück davon nicht abhängig zu machen und immer wieder den Blick darauf zu wenden, was man wirklich braucht und wofür man dankbar ist. Die Zufriedenheit steigt bis zu einem gewissen Grad mit dem Einkommen an, aber es gibt auch eine Obergrenze. Geld kann uns viele Sorgen nehmen und uns dadurch auch glücklicher machen.

Allerdings kommt das Konsumglück schnell an seine Grenzen, denn wir gewöhnen uns an unsere Besitztümer und den damit einhergehenden Komfort. Viel zielführender ist es, in Erlebnisse und gemeinsame Aktivitäten zu investieren – das muss oft auch gar nicht mit Geld zusammenhängen. Gemeinsame Erinnerungen sind unbezahlbar und machen nachhaltiger zufrieden. Auf der anderen Seite sind Armut, Krankheit oder Arbeitsplatzunsicherheit Faktoren, die sich negativ auf die Lebenszufriedenheit auswirken. Wenn wir jedoch nicht aus der Not heraus, sondern freiwillig unseren Konsum reduzieren, hat das keine negativen Auswirkungen.

Ein Blick in die Zukunft: Was wünschen Sie sich?

Dieses außergewöhnliche Ministerium ermutigt dazu, regelmäßig innezuhalten, sich gut um sich selbst und die Mitmenschen zu kümmern sowie regelmäßig aus der Komfortzone herauszutreten, um Neues zu wagen und eine positive Zukunft aktiv zu gestalten. Dadurch entsteht eine Bewegung, manchmal im ganz Kleinen – kleine Wellen, die immer mehr an Kraft gewinnen – und wer weiß, was alles noch daraus wachsen wird. Neben den großen Meilensteinen wie zum Beispiel die Teilnahme an einer OECD-Konferenz, der Zusammenarbeit mit dem Bundesjustizministerium oder der Besuch einer thailändischen Delegation freue ich mich am meisten über all die „kleinen“ Erfolge – zum Beispiel, wenn Menschen durch eine ministeriale Mitmachaktion zusammen finden, sich selbst besser kennenlernen, Arbeitsstellen wechseln, Weltreisen starten, Liebeserklärungen machen, sich versöhnen oder sich einfach wieder besser um ihre psychische Gesundheit kümmern. Das ist mein Motor, mein Antrieb. Und das wünsche ich mir weiterhin für die Zukunft, dass wir mit unserer Initiative diesen „Dominoeffekt der guten Gefühle“ anstoßen!

Zahlen und Fakten

Vier zu eins
sollte das Verhältnis von positiven zu negativen Gefühlen im Tagesdurchschnitt betragen, empfiehlt Prof. Karlheinz Ruckriegel von der Technischen Hochschule Nürnberg im Podcast Mit.Menschen. „Wir sind glücklich, wenn wir uns wohlfühlen mit unserem Leben, wenn wir das Gefühl haben, dass das Leben, das wir führen, gut und erfüllend ist.“ Glück sei eine „Nebenwirkung“ eines gelingenden Lebens. „Dauerhaftes Glück erfordert, dass wir den Weg genießen, der uns zu lohnenswerten Zielen führt. Es geht daher zum einen um einen achtsamen Umgang mit unserer Gefühlsbilanz, zum anderen kommt es darauf an, lohnenswerte Ziele im Leben zu verfolgen.“ Das subjektive Wohlbefinden besteht aus dem emotionalen Wohlbefinden und dem Grad der Zufriedenheit mit dem Leben, dem kognitiven Wohlbefinden.

Sechs Faktoren
bestimmen das Glück im Leben. Zu den wichtigsten Glücksfaktoren zählen der Glücksforschung zufolge gelingende und liebevolle soziale Beziehungen in der Partnerschaft und der Familie sowie zu den Freunden, Kollegen und zur Nachbarschaft. Laut Prof. Karlheinz Ruckriegel gelte es, die „Goldene Regel der Ethik“ zu beachten: „Behandle andere so, wie Du von ihnen behandelt werden willst.“ Neben der psychischen und physischen Gesundheit seien Engagement und eine erfüllende Tätigkeit unser dritter Glücksfaktor. So gilt das Ehrenamt als sehr glücksfördernd: „Studien zeigen, dass eine ehrenamtliche Tätigkeit mit einer höheren Lebenszufriedenheit und einer positiven Stimmung verbunden ist.“ Die persönliche Freiheit zählt als wichtiger vierter Faktor: das Gefühl zu haben, auf sein Leben Einfluss nehmen zu können.

Nummer fünf
der Glücksfaktoren hinterfragt die innere Einstellung: Sind Menschen optimistisch und dankbar? Diese Einstellung ist beeinflussbar. Ob das „Glas halb voll oder halb leer ist“, sei tief im Limbischen System verankert, erläutert Prof. Karlheinz Ruckriegel, und beruhe weniger auf einer rationalen Abwägung der Argumente, wofür der Neocortex zuständig sei. „Bei einer eher optimistischen Sichtweise ist das Belohnungssystem stärker aktiv, bei einer eher pessimistischen Sichtweise das Angstzentrum. Während man im ersten Fall die Aufgabe angeht, versucht man im zweiten Fall, der Herausforderung aus dem Weg zu gehen.“ Mit speziellen Übungen könne das Gehirn aber trainiert werden, auch stärker auf das Positive um uns herum zu achten, was nach und nach zu einer optimistischeren Grundhaltung beitrage.

Fünf bis zehn
Jahre länger leben? „Wer etwas dafür tut, glücklicher zu werden, fühlt sich nicht nur subjektiv besser, sondern hat auch mehr Energie, ist kreativer, stärkt sein Immunsystem, festigt seine Beziehungen, arbeitet produktiver und erhöht seine Lebenserwartung“, betont Prof. Karlheinz Ruckriegel von der TH Nürnberg. Die medizinische Forschung zeige, dass glückliche Menschen weniger krank werden: „Denn ihr Immunsystem ist nicht so belastet.“ Glück senke das Stresslevel und stärke die Immunabwehr. „Glückliche Menschen schütten geringere Mengen des Stresshormons Cortisol aus, bekommen seltener Diabetes, Bluthochdruck und Herzinfarkte.“

50 Prozent
der Führungspositionenin Deutschland sind Schätzungen zufolge falsch besetzt. Es fehle oft an Führungsethik und an sozialer Kompetenz, erklärt Glücksforscher Karlheinz Ruckriegel von der TH Nürnberg. „Menschen zu führen, heißt auch, Wertschätzung entgegenzubringen, Mitarbeiter zu fördern und Entscheidungsspielräume zu schaffen.“ Nicht jeder fachlich kompetente Mitarbeiter sei als Führungskraft geeignet oder will Führungskraft sein. „Der Mensch, nicht die Sache muss im Mittelpunkt stehen.“ Unternehmen sollten die Voraussetzungen schaffen, dass ihre Beschäftigten gern zur Arbeit gehen und dazu gehöre mehr als eine faire Bezahlung. „Fühlt man sich auf der Arbeit wohl, so steigt nachweislich auch das Engagement und eine Win-win-Situation entsteht.“

Im Jahr 2022
hat sich das Glücksniveau in Deutschland laut SKL Glücksatlas 2022 auf knapp 6,9 erhöht – auf einer Skala von null bis zehn. Damit ist eine leichte Erholung im Vergleich zum Rekordtiefstand von 2021 mit rund 6,6 zu verzeichnen. Das Niveau aus dem Jahr vor der Coronakrise lag bei über 7,1. Das subjektive Wohlbefinden eines Menschen hat zwei Ausprägungen: Das „emotionale Wohlbefinden“ beschreibt das Verhältnis zwischen positiven und negativen Gefühlen als Bilanz eines Tages. Das „kognitive Wohlbefinden“ bewertet den Grad der Zufriedenheit mit dem Leben.