Erik Lehmann hat das Wort: die distanzierte Mitte

Erik Lehmann hat das Wort: die distanzierte Mitte

„Obacht! Diese Kolumne könnte Sie verstören!“ – die IWHO, die Internationale Welt-Humor-Organisation mit Sitz in Ottendorf-Okrilla, empfiehlt neuerdings Satirikern, diesen Warnhinweis vor sämtliche Werke zu setzen, um vorschnellen Anschuldigungen als „Aluhut“, „Schwurbler“ oder „Nazi“ entgegenzuwirken. Denn wer als politischer Kabarettist seinen Job macht – sprich: vom „woken“ Zeitgeist abweicht –, der bekommt ganz schnell Applaus von der falschen Seite!
 
Aber kommen wir zu den harten Fakten: Alltag in Zeiten der Inflation. Ein normaler Einkauf im Supermarkt, für eine fünfköpfige Familie. Ganz klassisch, wie damals, unterm „Führer“ (bitte keine Schnappatmung jetzt, das war satirisch überhöht). Also: Vater, Mutter, dreimal Kind, macht knapp 140 Euro! Im Discounter! 140 Okken für einen Standardeinkauf! Milch (normale, keine Hafermilch – also 90 Prozent Wasser), Käse und Wurst, Mischbrot, Tee, Nudeln, Eier, Joghurt, Reis, Bananen, Kartoffeln, Möhren, Butter, Nussmischung, Salzstangen, Müsli, Äpfel und was Süßes. Fertig! Und – na gut – noch viermal das unfassbar gute Rumpsteak, weil die pubertierenden Plagen die vegetarische Schuleimerpampe mittlerweile zu großen Teilen ekelhaft finden.

Damit wir uns nicht falsch verstehen, ich jammere jetzt nicht, wegen „alles wird immer teurer“ und so, aber als gelernt links sozialisierter Mitbürger bekomme ich ein solches Unbehagen, wenn ich jenen Einkauf bei einer alleinerziehenden Kassiererin bezahle, bei der ich mich frage, wie die das alles, nebst Miete, Energiewucher und anderweitigen Betriebskosten, für ihre Plagen als Mitglied der Unterkaste unseres Billiglohnlandes bezahlen soll. Ach ja, mit Coupons und Bildungsgutscheinen natürlich. Bloß gut, dass die Kassiererin dank KI immer weiter wegrationalisiert wird. Das trägt zur Beruhigung meines Gewissens bei. Und dennoch: Der gesellschaftliche Tanker hat eine enorm soziale Schieflage bekommen und so langsam besteht bei einigen unter uns ein kaum mehr legal zu kittendes Ausgabenproblem.

Bloß gut, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich wieder eine neue „Mitte-Studie“ herausgebracht hat, die den Deutschen einen allgemeinen Hang zum rechten Gedankengut bescheinigt. Nichts gegen Studien. Nichts gegen gerechtfertigte Warnungen vor bedenklichen Entwicklungen, aber: Es ist eine Studie von vielen, die wieder mal ein Narrativ in sich trägt, dass zur Abstumpfung führt – und zwar auf beiden Seiten. Den teilweise zu Unrecht Gebrandmarkten ist es mittlerweile egal, wie man sie nennt, selbst wenn es „Nazi“ ist, wovon wieder diejenigen profitieren, die wirklich welche sind. Und diejenigen, die unüberlegt mit solchen Begriffen wie „Nazi“ um sich schmeißen, merken gar nicht, was sie damit anrichten. Die von der Studie so alarmierend herausgearbeitete „Verharmlosung des Nationalsozialismus“ unter den Befragten wird durch die Betitelung mit „Nazi“ all derjenigen, die nicht so denken, sprechen oder sich so verhalten, wie die sich selbst als moralisch überlegen Fühlenden, mittlerweile dermaßen ad absurdum geführt, dass diejenigen, die wirklich Nazis sind, sich nur ins rechte Fäustchen lachen können.

Reflexartig wird bei jedem AfD-Wahlerfolg tituliert: „Die frustrierten Wutbürger haben aus Protest die Rechten gewählt!“ Zur neuesten Entwicklung ist anzumerken, dass zumindest nicht mehr der „Ossi“ pauschal als rechts herhalten muss, denn Bayern und Hessen gehören eindeutig zu den alten Bundesländern. These: Kann es nicht sein, dass ein Teil der AfD-Wähler diese mittlerweile aus purer Verzweiflung wählt?

Lösungsvorschlag: Wenn wir endlich wieder anfangen, uns gegenseitig ernsthaft zuzuhören und nicht immer wieder auf die alte Mär der „gespaltenen Gesellschaft“ hereinfallen (denn eigentlich sind wir nicht gespalten, sondern einfach nur unterschiedlicher Meinung), dann könnten wir politische Weichen stellen, um wieder eine solide Mehrheit für unseren demokratischen Zusammenhalt zu gewinnen. Bleibt nur zu hoffen, dass dafür noch genügend Zeit und Verstand übrig ist, damit uns die große Ernüchterung erspart bleibt.

Mit seinen verschiedenen Kabarettprogrammen reist der Dresdner Kabarettist Erik Lehmann quer durch Deutschland und hat auch schon diverse Preise gewonnen. Unter dem Pseudonym Uwe Wallisch vertreibt der passionierte Hobbyimker zudem seinen eigenen Honig. Auf der Website www.knabarett.de ist Lehmann jederzeit käuflich und bestellbar. Honig gibt es auf uwes-landhonig.de.