Braucht es soziale Patrioten?
Nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern lassen zwei Begriffe aufhorchen: Neue Bürgerlichkeit und sozialer Patriotismus. Mit der ersten Formel versucht die FDP zu umschreiben, an wen sie sich mit ihrem politischen Angebot wendet. Den zweiten Begriff führt die SPD im Zusammenhang mit ihrem finanzpolitischen Konzept ein. Das Konzept hat Staatshaushaltskonsolidierung in Zeiten der Eurokrise zum Ziel und will zugleich Teilhabegerechtigkeit im Bereich der Bildung und Zukunftsfähigkeit im Bereich der Forschung sicherstellen.
Beim Begriff „neue Bürgerlichkeit“ holt die Parteien der Regierungskoalition ihre Wahlkampfsemantik ein. Es war nie risikolos, sich als bürgerliche Koalition zu bezeichnen in Abgrenzung zu ... – ja zu wem eigentlich?
Waren etwa all die Wähler anderer Parteien keine Bürger? Diese Frage können gute Demokraten – und das sind die Politiker der Koalition – nicht mit Ja beantworten. So gefragt, meint der Bürgerbegriff, was die französische Sprache viel treffender ausdrücken kann: die Citoyens im Unterschied zu den Bourgeois; die Staatsbürger im Unterschied zu den Besitzbürgern. Die Formel von der neuen Bürgerlichkeit zeigt deshalb nur eines: Die unter Wahlkampfgesichtspunkten positive Mehrdeutigkeit der Eigenschaft der Bürgerlichkeit hat sich im politischen Geschäft verbraucht. Das Adjektiv „bürgerlich“ ließ es zu, bourgeois anmutende Steuergeschenke für Hoteliers bruchlos mit durchaus republikanisch-freiheitlichen Anliegen zu verbinden: etwa Vorratsdatenspeicherungen nicht zu akzeptieren. Doch dieser Schleier über eine unentschiedene Grundhaltung ist unter dem Druck der Staatsschuldenkrisen in den europäischen Mitgliedsstaaten gerissen. Ihn als neue Bürgerlichkeit neu weben zu wollen, wird der liberalen Partei keine Besserung bringen. Das Schwanken zwischen sogenannter neuer bürgerlicher Klientel und altem freiheitlichem Ideal hat der Klarsprecher der Partei, Wolfgang Kubicki, längst mit dem unüberhörbaren Ausruf: „Als Marke verschissen!“ verrissen. Die Vollendung der Hilflosigkeit zeigt sich im Nachschub: Neue Bürgerlichkeit meint Bitteschön nicht die Spießbürger. Dass die Formel der neuen Bürgerlichkeit der FDP das Überleben schwerlich sichert, schon einmal gar, wenn nationalliberale Töne beigemischt werden, das hat die Berlin-Wahl als Reaktion auf die euroskeptische Debatte gezeigt.
Macht die SPD es mit ihrem Lob besser, Millionäre, die sich anböten, mehr Steuern zu zahlen, seien soziale Patrioten? Das Wort Vaterlandsliebe kann mindestens so schillernd gebraucht werden, wie es dem Bürgerbegriff in der laufenden Legislaturperiode widerfahren ist.
Führt der Appell an die Vaterlandsliebe in der Staatsschuldenkrise, die in den Mitgliedsstaaten Europas grassiert, überhaupt weiter? Ist nicht gerade die Berufung auf die Vaterlandsliebe das Werkzeug derjenigen, die nie einen Hehl aus ihrem Unwillen gemacht haben, Solidarität im europäischen Maßstab zu üben?
Als General De Gaulle die Formel vom Europa der Vaterländer prägte, mag das unter den Nachkriegsverhältnissen der einzige Weg gewesen sein, europäische Integration mit der gewachsenen Nationalstaatlichkeit zu verbinden. Klar war aber, dass er mit dem Appell an die Vaterlandsliebe nicht die Integration Europas zu beschleunigen gedachte. In ihrem historischen Erfahrungsschatz verfügt die SPD über ganz andere Wissensbestände, an die zu erinnern heute wichtig wäre. Es ging dieser Partei in ihrer Geschichte immer wieder auch darum, ins Bewusstsein zu rufen, dass Lebens- und Interessenlagen über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg verbinden. Der griechische Angestellte, der um sein Einkommen und seine Stelle bangt, hat mit dem deutschen Angestellten, der sich vor wachsenden Steuerlasten und Inflation fürchtet, vieles gemein: trotz des harten Konflikts um den richtigen Weg aus der Krise, der sie unweigerlich trennt. Nur haben beide nicht die Möglichkeit, als Staatsbürger miteinander etwa in gemeinsamen Parteien in einem gemeinsamen Parlament, um ihre jeweiligen Rechte und Pflichten zu ringen. Das geben die europäischen Institutionen nicht her.
Jedenfalls stört an dem Lob des sozialen Patriotismus folgendes: Eine gar nicht so große Minderheit in der Bevölkerung schultert sehr solidarisch den Großteil des Einkommenssteueraufkommens. Sie genügt damit ihrer staatsbürgerlichen Pflicht, folgt man der Logik der SPD, dann erfüllt sie aber auch „nur“ ihre staatsbürgerliche Pflicht. Sie darf sich aber nicht, weil ihr der Gestus des Spendablen nicht vergönnt ist, mit dem Ehrentitel des sozialen Patrioten schmücken.
Möchte die SPD etwa wirklich die Staatsfinanzierung, wie der Philosoph Sloterdjik, zur freiwilligen Angelegenheit der Stolzen, der Vaterlandsliebenden machen? So ehrenwert, sozial sensibel und verantwortungsvoll das Angebot eines Müller-Westernhagen ist. Das kann nicht der Ernst der Sozialdemokraten sein. Sie sollten deshalb die Forderung nach einem höheren Spitzensteuersatz auch nicht mit dem Rauch höherer, patriotischer Weihen umgeben.
So sollte man in beiden Lagern darauf achten, nicht der kurzatmigen Umwertung grundlegender Werte das Wort zu reden: Das gilt für die Werte der selbstbestimmten Bürgerlichkeit und das gilt für den Grundwert der Sozialstaatlichkeit, der mit pathetischer Vaterlandsliebe nicht so viel, dafür mehr mit nüchternem Verfassungspatriotismus gemein hat.
Ihr
Dr. Thomas Fischer