Also doch!
Der Sommer wird nun im August doch noch heiß und auch in Berlin steigt die Betriebstemperatur: Was sagt Karlsruhe im September zum dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus?
Aus Sicht der Wirtschaft ein klassisches Dilemma. Starke Regierungschefs, schnelle Entscheidungen. Oder: Einbindung und Überzeugung vieler Betroffener, womöglich sogar ein Referendum, denn das führt zu großer Belastbarkeit und hoher Legitimation der Entscheidung. Mit welcher Erwartung soll sich die Wirtschaft an die Politik wenden? Das ist nicht einfach zu entscheiden.
Die Wirtschaft – gerade die deutsche in ihrer Exportorientierung – braucht den europäischen Wirtschafts- und damit den inzwischen entstandenen Euro-Währungsraum. Also kann sie wegen der Bedeutung der europäischen Märkte die Rettungsbemühungen nicht prinzipiell konterkarieren. Und will es auch mehrheitlich nicht. Nein, sie fordert sogar, dass rasch und entschieden gehandelt wird. Die Wirtschaft braucht auf mittlere und längere Sicht allerdings auch legitimierte politische Systeme. Nach allem, was wir wissen, können das nur parlamentarisch kontrollierte Systeme sein. Ansonsten, etwa in benevolenten Staatsdiktaturen oder Oligarchien, löst sich jegliche Planungssicherheit für wirtschaftliche Investitionen auf. Außerdem ist ein komplett selbstregulativer Markt ein Phantom, an das nach der weltweiten Finanzkrise selbst in Chicago keiner mehr glauben dürfte.
Der derzeitige Euro-Rettungsdruck stärkt aber in heftiger Weise den sogenannten Intergouvernementalismus: das verschwiegene Florettfechten und Fingerhakeln in den Hinterkammern von Regierungssherpas und die Kabinettspolitik der Regierungschefs. Diese schafft kurzfristig Luft, schwächt allerdings zusehends die Legitimationsbasis nicht nur der europäischen Institutionen, sondern auch die Legitimation der Nationalstaaten und der Parlamente.
Obwohl die Wirtschaft kurzfristig größtes Interesse daran hat, dass die Finanzmärkte sich beruhigen und die Währung wieder stabil wird – und deswegen den scheinbar um so viel handlungsfähigeren Intergouvernementalismus akzeptiert – wird sie sich dennoch Verbündete suchen müssen, um dieses Dilemma von Kurz- und Langfristziel aufzulösen.
Das heißt, sie wird darauf dringen müssen, dass die Regierungschefs, die mit der Schaffung des EFSF und ESM flugs ins Völkerrecht und auf die Ebene von Staatsverträgen ausgebüxt sind, wieder dem supranationalen Europarecht gehorchen. Das werden diese aber nur tun, wenn das supranationale Europarecht und die EU stärker werden.
Experten fordern dazu eine demokratisch legitimierte, zweite Staatenkammer in Brüssel neben dem Europaparlament. Dann erst könnte man erwarten, dass alle, die etwas zu sagen haben sollten, in Brüssel auch wirklich mitreden können. Da sind die europäischen Bürger: Sie wählen das Europaparlament. Da sind die Staaten: Sie entsenden ihre Regierungschefs und Minister in den Rat der Europäischen Union. Da sind die verschiedenen europäischen Völker. Die haben bislang kein Organ. Sie hätten aber dann in der Staatenkammer ihr Sprachrohr. Der Idee lässt sich zumindest nicht absprechen, dass sie folgerichtig aufgebaut ist. Denn ein einheitliches europäisches Staatsvolk wird auf Sicht nicht entstehen. Der Kampf in der zweiten Kammer und um die zweite europäische Kammer könnte aber dazu führen, dass das dringend benötigte europäische Parteiensystem gestärkt wird.
Hat man jetzt Zeit für solche Überlegungen? Jetzt, da das Brüsseler und Berliner Entscheidungskarussell wieder volle Fahrt aufnimmt? Da wirkt es unweigerlich etwas „aloof“, wie die Engländer sagen, zweite Staatenkammern zu entwerfen. Nur: Wenn das Bundesverfassungsgericht über den ESM im September entschieden haben wird, dann ist die Gefahr eines Demokratiedefizits definitiv ein Thema, in Europa oder in Deutschland – so oder so! Das darf man schon jetzt unterstellen. Also doch?!
Ihr Gerhard Kronisch