Die demografische Falle: Wohlstand in Gefahr
Wir leben in turbulenten Zeiten. Finanzkrise, Schuldenkrise, Währungskrise – und kein Ende in Sicht. Trost finden wir darin, dass es uns noch relativ gut geht: Die Wirtschaft brummt, der Arbeitsmarkt ist stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Aber schleichend rollt eine viel existenziellere Krise auf uns zu. Wenn nicht wirkungsvoll gegengesteuert wird, führt die demografische Entwicklung unweigerlich zu einem Nachwuchs- und Arbeitskräftemangel. Für die Industrie bedeutet dies: Ohne wachsende Forscher- und Entwicklerzahlen kein Wirtschaftswachstum, ohne Wachstum kein Wohlstand. Langfristig bedroht nichts unseren Wohlstand so sehr wie der demografische Wandel.
Nirgendwo in der EU werden weniger Kinder geboren als in Deutschland, das ist leider keine neue Erkenntnis. Nach Erhebungen von Eurostat sind es gerade einmal 8,3 Kinder auf 1.000 Einwohner. Zum Vergleich: Spitzenreiter ist Irland mit 16,5 Kindern, gefolgt von Großbritannien (13,0) und Frankreich (12,8). Dem Statistischen Bundesamt zufolge liegt der Kinderanteil an der deutschen Gesamtbevölkerung nur noch bei 16,5 Prozent. Frankreich, Großbritannien und die skandinavischen Länder kommen auf über 20 Prozent. Die deutsche Gesellschaft hingegen schrumpft und altert. Laut einer Studie des Rostocker Zentrums zur Erforschung des Demografischen Wandels und der europäischen Chemie-Sozialpartner ist die natürliche Bevölkerungsentwicklung hierzulande bereits seit 1927 negativ. Schlimmer noch: Auch die Zuwanderung vermag die Defizite nicht auszugleichen. 2010 wanderten zwar 130.000 Menschen mehr zu als ab, gleichzeitig starben aber 180.000 Menschen mehr, als geboren wurden – ein „Nettoverlust“ von 50.000. Wie so oft, ging ein Aufschrei durch die Medien, um schnell im Krisenstrudel zu verhallen. Die Politik ist mit Dringenderem beschäftigt, etwa dem Aufspannen neuer Rettungsschirme. Dabei ist es höchste Zeit für ein Umdenken.
Die Demografie rückt die Familienpolitik immer stärker ins Zentrum einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik. In Sachen Familienfreundlichkeit und Geschlechtergerechtigkeit gelten Frankreich und Skandinavien als Erfolgsmodelle, nicht zuletzt durch ihr dichtes Netz von staatlichen oder staatlich geförderten Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird Kindererziehung dort nicht als individuelle, sondern als staatliche, von der Gesellschaft akzeptierte Aufgabe wahrgenommen. So betrachtet beispielsweise die schwedische Politik alle Bürger grundsätzlich als Erwerbstätige, während der Staat das Versorgungs- und Betreuungsrecht der Kinder garantiert.
Frankreich kann mit der größten Bandbreite an öffentlichen und staatlich geförderten privaten Betreuungseinrichtungen aufwarten. Als autonomer Teil des Sozialversicherungssystems koordiniert die Familienkasse sämtliche Leistungen und Sozialprogramme. Allen positiven Vorbildern gemein ist eine allgemeine Präferenz von Dienst- gegenüber Transferleistungen. Familienpolitik in Deutschland ist dagegen traditionell transferlastig. Hierzulande liegt es faktisch in der Verantwortung der Arbeitgeber, Defizite im öffentlichen Betreuungsangebot durch betriebliche Alternativen auszugleichen.
Ein weiterer wunder Punkt ist die Bildungspolitik: Während Frankreich das System flächendeckender Vor- und Ganztagsschulen geradezu perfektioniert hat, gleicht Deutschland einem föderalen Flickenteppich. Nach wie vor gibt es für berufstätige Eltern zu wenige Angebote einer durchgehenden schulischen und nachschulischen Betreuung.
Allerdings ist Deutschland in diesem Punkt gespalten: Wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bestätigt, verfügen die ostdeutschen Bundesländer über ein wesentlich dichteres Kinderbetreuungsnetz als die westdeutschen. Auch kehren ostdeutsche Frauen nach der Geburt eines Kindes früher ins Berufsleben zurück. Das Resultat: In den im Osten der Republik ansässigen Unternehmen gibt es deutlich mehr weibliche Führungskräfte als im Westen.
Seit Jahren fordert die Wirtschaft von der Politik, für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Karriere zu sorgen – zu Recht. Doch auch in der Wirtschaft gibt es Nachholbedarf, vor allem in der Tarifpolitik: Betriebliche Mitbestimmung, Betriebs- und Sozialpartnervereinbarungen bieten genug Spielraum für neue Denkansätze.
Zeit tut not. Was uns fehlt, sind stringente Konzepte und deren konsequente Umsetzung sowie eine gehörige Portion Skandinavien.