Rohstoffsicherheit: Sündenbock Spekulation?
Im Jahr zwei nach der Krise spielt es sich auf der Klaviatur der Konjunktur erfreulich leicht – zumindest in Deutschland. Der Wirtschaftsmotor läuft rund, der Arbeitsmarkt ist robust und selbst der Euro trotzt tapfer Rettungsschirm und Schuldendesaster. Auch auf der großen Bühne, wie kürzlich im kleinen Davos auf dem Weltwirtschaftsforum, bestimmt verhaltener Optimismus die Stimmung. Doch die Klaviatur der Konjunktur birgt Tücken – ein kleiner Fehlgriff und die Tonart wechselt abrupt von Dur nach Moll.
Eine der wichtigsten Sollbruchstellen der Zukunft ist schon heute klar erkennbar: die Rohstoffknappheit. Während unsere Ressourcen begrenzt sind, steigt der Energiehunger immerfort. Zudem liegt ein Großteil der Rohstoffvorkommen in Regionen, die nicht für ihre politische Stabilität bekannt sind. Auch die Tatsache, dass die kommende Supermacht China über 95 Prozent der für die Industrieproduktion essentiellen Seltenen Erden kontrolliert, trägt nicht wirklich zur Rohstoffsicherheit bei. Als Folge zieht die Preisspirale scheinbar unaufhörlich an. Für den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der Ende Januar seine Agenda für den G8- und G20-Vorsitz vorstellte, gibt es aber noch einen weiteren, entscheidenderen Grund: die Spekulation.
Wieder einmal muss die in den letzten Jahren heftig gescholtene Finanzbranche Kritik einstecken. Seit der Deregulierung der Rohstoffmärkte und -börsen zu Beginn des Jahrtausends sind Finanzinvestoren in großem Stil in den Handel mit Rohstoff-Derivaten eingestiegen. Umstritten ist allerdings ihr tatsächlicher Einfluss auf die Preisentwicklung. Sicher, Finanzmarktakteure können für nicht unerheblichen wirtschaftlichen Schaden sorgen. Und doch sind es eher systemische Kollateralschäden – mehr Symptom denn Krankheit. Es gibt plausiblere Gründe für Preissprünge an den Rohstoffbörsen: zum einen das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern, zum anderen die Umstellung auf eine klimafreundliche Wirtschaft. Immer häufiger kommt es dadurch zu regionalen Rohstoffkonkurrenzen, die wie im Fall von Biokraftstoffen globale Konsequenzen haben und ebenfalls zur Rohstoffknappheit beitragen.
Rohstoffsicherung und Ressourceneffizienz gehen Hand in Hand. Im Internationalen Jahr der Chemie ist die Chemische Industrie geradezu verpflichtet, Lösungen zum schonenden Umgang mit Ressourcen aufzuzeigen. Und sie tut es! Ja, die Chemie braucht viele Rohstoffe. Aber der effiziente Einsatz dieser Rohstoffe in der Gegenwart senkt den zukünftigen Verbrauch um ein Vielfaches. Diesen Zyklus der Ressourcenschonung treibt die Chemie voran.
Dafür ist sie jedoch auf einen stabilen, für die Unternehmen möglichst berechenbaren Rohstoffmarkt angewiesen. An dieser Stelle kommt die Politik ins Spiel: Statt sich medienwirksam auf die Bekämpfung der eher peripheren Spekulation zu stürzen, sollte sich Nicolas Sarkozy um ein zumindest unter den EU-Partnern abgestimmtes Konzept zur Koordinierung der Rohstoffpolitik bemühen.
Unlängst präsentierte die EU-Kommission ihren in die Strategie Europa 2020 eingebetteten Plan für ein ressourcenschonendes Europa. Viel Neues bietet er nicht – intelligente Ressourcennutzung, mehr Umweltschutz und nachhaltiges Wirtschaftswachstum gehören zu den Eckpfeilern eines jeden Zukunftsentwurfs. Interessanter ist der Plan, den die Kommission entgegen ihren ursprünglichen Absichten nicht vorstellte, nämlich die neue Rohstoffstrategie. Darin wird die von Sarkozy herausgearbeitete Schlüsselrolle der Finanzspekulation bei Rohstoffpreisen bezweifelt, übrigens auch von Experten der OECD und des IWF. In letzter Minute beugte sich die Kommission dem Druck des französischen Präsidenten und verschob die Präsentation.
Europa braucht beides: eine gemeinsame Rohstoffpolitik und einen gemeinsamen Rohstoffmarkt. Dazu gehört auch der Handel mit Rohstoffderivaten, der sich nicht wie Teile der Finanzwirtschaft – etwa der sich mittlerweile zu gefährlicher Größe aufblähende Schattenbanksektor – vernünftigen Kontrollmechanismen entziehen darf. Über Instrumente wie die Einführung von Margenzahlungen oder Positionslimits kann und muss diskutiert werden. Aber eine Entmündigung der Rohstoffmärkte darf nicht stattfinden, damit würden letztlich auch die rohstoffintensiven Industrien ausgehebelt. Gerade durch den Derivatehandel sichern sich Unternehmen gegen Preisschwankungen ab. Es wäre höchst bedauerlich, geriete ein solch wichtiges Thema zum Spielball persönlicher Eitelkeiten. Der Rohstoffmangel bedroht Industrieländer in ihrem wirtschaftlichen Kern. In dieser Frage sind Alleingänge oder Schnellschüsse nicht nur unangebracht, sondern kontraproduktiv. Zögerlichkeit und zähe Abstimmungsrunden kann sich aber auch niemand leisten.