Versicherungen schaffen kalkulierbare Verluste
Das neue Jahr beginnt, so erstaunlich warm und mild wie das vergangene endete. Klimawandel mit all seinen Risiken? Risikogesellschaft – den Begriff hat der Soziologe Ulrich Beck Mitte der 80er Jahre populär gemacht. Umweltrisiken machen nicht an Grenzen halt. Sie treffen alle. Ihnen wohnt, möchte man meinen, ein egalitäres Moment inne. Weil jeder Mensch im selben Maße auf sauberes Wasser, saubere Luft, saubere Böden und saubere Ernährung angewiesen ist, sind Umweltrisiken solche, die universell als bedrohlich empfunden werden. Ergo müsste die Reaktion auf diese Risiken überall auf der Welt ähnlich sein: Vor Umweltkatastrophen sucht man sich zu schützen, zumindest für den Eintritt der Gefahr die Sachwerte in der Allianz der Versichertengemeinschaft zu versichern.
Tatsächlich ist das aber ganz und gar nicht der Fall. Ein Hurrikan an der US-Ostküste ist beileibe nicht dasselbe Ereignis wie ein Tsunami an einer der ostasiatischen Pazifikküsten – jedenfalls für die Versicherungsbranche. Teuer der erste, kaum ernsthaft der Rede wert der zweite. Dass der Hurrikan Sandy die Versicherungsbranche 50 Milliarden gekostet hat, steht überall zu lesen. Nicht aber, wie teuer die Branche die Überschwemmungskatastrophe in Pakistan kam. Warum ist das so? Der Mensch schafft sich soziale Institutionen selbst. Diese sind in ihrer Wirkung gar nicht hoch genug anzusetzen. Gehäuse des Handelns, hart wie Stahl, das seien soziale Fakten, sagt die Soziologie: Obwohl nicht zu messen, oder zu schmecken, bestimmten sie die Interpretation einer bedrohlichen Situation und das Verhalten. Bei sozialen Institutionen ist an erster Stelle an den Markt zu denken. Unerbittlich zeigt er uns mit den Preisen an, welches Gut knapp und begehrt ist und welches im Überfluss zu haben ist – denkt man.
Was als Risiken außerhalb des betriebswirtschaftlichen Bewertungsansatzes bleibt, ist indes eine wenig transparente Setzung. Je stärker Umweltrisiken zu Risiken gehören, die nicht in die Berechnung von Kosten und Preisen einfließen müssen, umso mehr können in der Gegenwart Gewinne realisiert werden, deren faktische Lasten künftige Generationen zu tragen haben. Man kann das, wenn man will, Standortvorteile nennen. Allerdings ist das nur eine Frage der Perspektive auf der Zeitachse: Denn der gegenwärtige Vorteil des Ressourcenverbrauchs zu geringeren Kosten schlägt sich nieder im künftigen Nachteil, die Folgelasten der Umweltschäden verteilen zu müssen. Sobald der Ressourcenverbrauch die Dimension eines Schadens erreicht hat, lässt er sich beziffern. Dann wird er zur mesurablen Größe.
Die Versichertengemeinschaft, so denn vorhanden, hat zu diesem Zeitpunkt, was sie braucht: Einen Schadensfall mit Eintrittswahrscheinlichkeit und anzunehmendem Schadensumfang. Versicherungen sind insofern grundsätzlich eine wertvolle Erfindung. Es handelt sich um soziale Institutionen, die riskantes Verhalten überhaupt erst ermöglichen. Sie sind aber zugleich Instrumente, um riskantes Verhalten schadensmindernd zu steuern. Platt gesagt: Wo die Versicherbarkeit endet, fängt zumeist das Hasardeurtum an. Will man also wissen, an welchen Stellen die Weltwirtschaft nicht mehr tragbare Risiken eingeht, dann muss man im Grunde nur die Versicherungsausschlüsse der Rückdeckungsversicherungsgesellschaften daraufhin durchsehen, wo trotz nicht absicherbarer Risiken produziert wird.
Allerdings ist die Fähigkeit und Bereitschaft, Umweltbelastungen aus dem Status der unkalkulierbaren Umweltkatastrophe in ein Versicherungskalkül zu überführen, alles andere als gleich verteilt. Man muss sich das Produzieren unter Einschluss der Versicherungsbeiträge ökonomisch schon leisten können und wollen. Die Transformation einer unkalkulierbaren Gefahr zum beherrschbaren und berechenbaren Risiko ist nämlich kostspielig. Sonst wäre das Angebot einer Versicherung, aus unberechenbaren Gefahren kalkulierbare Verluste zu schaffen, auch kein Geschäftsmodell.
Wer als an einer pazifischen Ostküste lebender Mensch alle Hände voll damit zu tun hat, sein Leben in der Gegenwart zu meistern, vergeudet ungern Zeit darauf, Versicherungen gegen zukünftige Risiken abzuschließen. Genau das ist dagegen dem Menschen an der atlantischen Ostküste ein selbstverständliches Bedürfnis. Deshalb sind die etwaigen Verheißungen des Weltmarktes in den verschiedenen Winkeln dieser Erde auch von höchst unterschiedlicher Qualität. Umweltkatastrophen schärfen keineswegs zwangsläufig ein universelles Bewußtsein dafür, dass die Menschheit im gleichen Boot sitzt. Nein, zunächst einmal zeigen sie den Habenichtsen dieser Welt: Die, die nichts zu verlieren haben, können stets ihre gesamte Existenz verlieren; während die Institution des Markts dafür sorgt, dass andere „nur“ Verluste schreiben müssen.