Keine Angst vor der eigenen Courage
Fast 100 Jahre. Eine solche Lebensdauer können wohl nur die wenigsten Regelungen in der deutschen Sozialpolitik vorweisen. Die Altersgrenze von 65 Jahren bei der Gesetzlichen Rente war so eine Regelung. Eingeführt 1916, blieb sie bis zum Ende des letzten Jahres in Kraft. Seit dem 1. Januar müssen die Arbeitnehmer in Deutschland länger arbeiten, um ohne Abschläge in den Ruhestand gehen zu können.
Die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre bis 2031 ist eine sozialpolitische Zäsur. Und bei vielen Menschen in Deutschland äußerst unpopulär. Insofern kann man den Politikern, die daran beteiligt waren, Mut attestieren. Dass nun ausgerechnet einige von ihnen öffentlich darüber nachdenken, die Notbremse zu ziehen, überrascht allenfalls im ersten Moment. Offenbar bringt sich die CSU bereits für die bayerischen Landtagswahlen 2013 in Stellung, während die SPD-Linke rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl versucht, sich erneut mit Heilsversprechen aus der Zeit vor der Kanzlerschaft Gerhard Schröders zu profilieren.
Dabei gibt es wahrlich genügend Gründe, sich sachlich und ohne vorwahlkämpferisches Getöse mit dem Thema zu befassen. Das mag damals auch die Mitglieder der großen Koalition bewogen haben, der Rente mit 67 eine Überprüfungsklausel mit auf den Weg zu geben. Alle vier Jahre muss die Bundesregierung eine Einschätzung abgeben, ob die Anhebung des Renteneintrittsalters im Hinblick auf die Lage der Älteren am Arbeitsmarkt weiterhin vertretbar ist. Als Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen das im November 2010 erstmals tat, war ihr Schluss eindeutig: An der Maßnahme festzuhalten sei notwendig und vertretbar.
Die Notwendigkeit liegt bis zu einem gewissen Grad auf der Hand. Als die Altersgrenze von 65 Jahren 1916 eingeführt wurde, lag die fernere Lebenserwartung der 65-jährigen Männer zwischen 10 und 11 Jahren. Heute beträgt sie bei Männern mehr als 17 und bei Frauen sogar mehr als 20 Jahre. Damit ist sie länger als je zuvor, was ohne jeden Zweifel höchst erfreulich ist.
Doch gleichzeitig schrumpft durch die niedrige Geburtenrate die Zahl der unter 65-Jährigen. Im Ergebnis stehen weniger Beitragszahler mehr Rentenempfängern gegenüber. Um den Teil dieser Entwicklung, der nicht durch die steigende Produktivität der Erwerbstätigen kompensiert wird, innerhalb des Umlagesystems aufzufangen, kommen nur drei Hebel in Betracht: eine Absenkung der Realrenten, die gerade Beziehern von ohnehin schon niedrigen Renten kaum zugemutet werden könnte. Eine Anhebung der Rentenversicherungsbeiträge, die vor allem den kommenden Generationen weitere Lasten aufbürden würde. Oder eben die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Die Kritiker der Rente mit 67 weisen zurecht darauf hin, dass eine solche Verlängerung tatsächlich eine faktische Rentenkürzung ist, solange sie sich vor allem in höheren Abschlägen beim vorzeitigen Renteneintritt und kaum in einer echten Verlängerung der Lebensarbeitszeit niederschlägt.
Ist die Rente mit 67 also – bei aller Notwendigkeit – tatsächlich vertretbar? Seit die Anhebung des Renteneintrittsalters vor fünf Jahren verabschiedet wurde, ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter zwischen 60 und 64 Jahren laut Bundesagentur für Arbeit von 730 000 auf 1,2 Millionen gestiegen. Ein ordentlicher Anstieg.
Schaut man allerdings auf den Anteil an der Gesamtzahl der Personen in dieser Altersgruppe, offenbart sich ein anderes Bild: Er stieg von 17 Prozent auf 27,5 Prozent. Bliebe es dabei, ein bedingungsloses Festhalten wäre auf Dauer nicht zu vertreten. Doch angesichts des deutlichen Trends in die richtige Richtung darf die Schlussfolgerung zu diesem Zeitpunkt eben kein entmutigtes „Dann vielleicht später“ sein. Vielmehr muss die Devise gerade jetzt lauten: „Wir bleiben dran!“. Noch mehr als bislang müssen wir mit flankierenden Maßnahmen dafür sorgen, dass ältere Arbeitnehmer möglichst lange gesund und produktiv in den Arbeitsprozess eingebunden sind. Dafür ist nicht zuletzt ein Mentalitätswandel in vielen Personalabteilungen nötig. Auch ein durchdachteres Teilrentensystem, das älteren Erwerbstätigen mehr Spielraum bei der zeitlichen Gestaltung ihres Arbeitslebens ermöglicht, wäre ein Schritt in die richtige Richtung.
Besonders gefordert sind die Branchen, in denen die beruflichen Anforderungen eine Ausdehnung der Lebensarbeitszeit nicht in allen Bereichen zulassen. Wie der Rückzug des Staates durch eine kompensierende Tarifpolitik aufgefangen werden kann, haben die Chemie-Sozialpartner im Tarifbereich mit dem Demografie-Tarifvertrag gezeigt. Für den außertariflichen Bereich hat der VAA mit dem BAVC die Sozialpartnervereinbarung „Führungskräfte im demografischen Wandel“ geschlossen. Diese Vereinbarung gilt es auch weiterhin mit Leben zu erfüllen.
Denn die Herausforderungen, die in Zukunft durch solche Modelle zu bewältigen sein werden, dürften weiter wachsen. Manche unken, im Bereich der Altersvorsorge sei das Ende der Fahnenstange wohl noch nicht erreicht: In einem Zeitungsinterview prognostizierte jüngst der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen Wolfang Franz die weiteren Schritte, die der Sachverständigenrat in Sachen Renteneintritt für notwendig hält: 68 Jahre ab 2045, 69 Jahre ab 2060. Da möchte ich freilich anmerken: Dass die Statistik zwar manches vermag; vor allem, wenn sie selbst erstellt ist, um mit Churchill zu sprechen. Allerdings kann sie wohl kaum die arbeitsmedizinischen Gegebenheiten außer Kraft setzen.